Was macht es so schwierig, auch auf das eigene Wohlbefinden zu achten?
Viele Angehörige sehen sich vor einer schwierigen Wahl: für die eigene Gesundheit schauen, bedeutet für sie, ihr Gegenüber zu vernachlässigen. Die kleinen, aber kontinuierlichen Veränderungen versuchen sie stets, noch selbst zu bewältigen. Weil man sich einmal versprochen hat, füreinander da zu sein in guten und in schlechten Tagen, oder weil man es sich noch nicht eingestehen möchte, dass die eigenen Kräfte schwinden, holen sich Angehörige oft erst sehr spät fremde Unterstützung wie etwa den Entlastungsdienst oder die Spitex.
Wie erkennen Angehörige, dass sie überlastet sind?
Ich erlebe den Umgang mit Demenz oft als Gratwanderung zwischen Liebe und Hass. Diese Extreme sind völlig normal, man pendelt zwischen «Ich habe diesen Menschen über alles geliebt» und «Ich verstehe diese Person nicht mehr». Wenn man vermehrt auf die Seite der unbändigen Wut abstürzt, dann ist dies ein wichtiger Fingerzeig, sich professionelle Hilfe zu suchen, um wieder auf dem Grat gehen zu können und auch die andere Seite zu sehen.
Warum fällt es schwer, fremde Unterstützung zu holen?
Es ist entscheidend, dass man jemand anderen zutraut, gut mit dem Partner umzugehen. Oft erlebe ich, dass Angehörige die demenzerkrankte Person vor allem Negativen bewahren wollen. Dabei besteht das Leben für uns alle aus der ganzen Bandbreite der Gefühle. Manchmal will man Erkrankten nicht mehr zumuten, dass sie auch einmal traurig oder wütend sind. Und das können sie sein, wenn sie beispielsweise an einer Ferienwoche teilnehmen sollen, damit Angehörige einmal eine Auszeit haben. Häufig halten einen auch Freunde oder Fachpersonen den Spiegel vor und weisen darauf hin, dass wieder einmal eine Pause angezeigt wäre. Die Aussensicht ist oft hilfreich, die eigene Wahrnehmung zu überprüfen und etwas zu verändern.
Was hilft Angehörigen, besser mit der Situation zurechtzukommen?
Den Kontakt mit Gleichbetroffenen in Angehörigengruppen erlebe ich als wichtige Stütze. Sie bieten Platz, um abzuladen und die Befindlichkeiten klar zu benennen. Umgekehrt tauschen sich die Teilnehmenden auch über Ressourcen aus und werden sich ihrer eigenen bewusst. Gruppen von Gleichbetroffenen haben eine Ventilfunktion und sind auch Mutmacher sowie Inspirationsquelle. Solche Inseln sind wichtig und können auch die Gespräche in der Familie und im Freundeskreis entlasten. Sich nicht verkriechen, sondern aktiv bleiben, nach draussen gehen und den Freundes- und Bekanntenkreis pflegen ist wichtig, um zu verschnaufen und Energie zu tanken.
Offen über Demenz zu sprechen, finde ich für das eigene Wohlbefinden ebenfalls zentral. Aus meiner Sicht ist die Erkrankung nach wie vor stigmatisiert. Demenz ist für Aussenstehende sehr lange nicht wahrnehmbar. Die Nachbarn erleben etwa die erkrankte Person noch lange als vital und selbständig. Erkrankte wiederum entwickeln zu ihrem eigenen Schutz Strategien, wie sie den Schein wahren können, ohne ihre Defizite preis zu geben. Zusätzlich irritiert, dass die Fähigkeiten des Erkrankten nicht stabil sind: War es beispielsweise aktuell nicht möglich, die Schuhe zu binden, kann dies am nächsten Tag durchaus gelingen, danach aber wieder nicht mehr. Vor diesem Hintergrund fühlen sich Angehörigen in ihrer eigenen Betroffenheit oft zu wenig wahrgenommen. Sie in einer Angehörigengruppe zu benennen, ist oft hilfreich, um auch einmal die Perspektive der erkrankten Person sowie der weiteren Umgebung einnehmen zu können. Offen über die Erkrankung zu reden, macht auch Veränderungen für Freunde und Bekannte nachvollziehbar.
Sie haben die Angehörigengruppe erwähnt. Wie muss man sich diese vorstellen?
In diesen Gruppen treffen Angehörige aufeinander, die eben erst seit kurzem mit der Diagnose konfrontiert sind, und andere, deren Partner inzwischen im Heim lebt oder bereits verstorben ist. Es ist wichtig zu hören, was auf einem zukommen kann. Und man erfährt, dass man mit Demenz leben kann und erhält Tipps, wie dies gelingen kann. Und vor allem erleben die Teilnehmenden, dass sie nicht alleine sind mit ihrer Wut oder Trauer und dass es normal, verzweifelt zu sein, wenn man z.B. jemanden in ein Heim geben muss, weil die eigenen Kräfte nicht mehr reichen.
Wann ist der richtige Zeitpunkt für den Umzug in ein Pflegeheim?
Es gibt nie den richtigen Zeitpunkt für diesen Schritt. Vom Gefühl ist der Heimeintritt immer falsch: Er ist verfrüht, der Ort stimmt nicht oder die Leute passen nicht. Sich einzugestehen, dass es den idealen Zeitpunkt nicht gibt, ist entlastend. Und führt dazu, dass man einen rationalen Entscheid fällen kann, indem man sich die Argumente dafür und dagegen notiert. Oft hilft es auch, wenn Angehörige sich mit ihrem Umfeld und mit Fachpersonen austauschen. Diese halten einen den Spiegel vor und machen deutlich, dass sich etwas verändern muss.
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