Das Dorf Chardonne liegt inmitten der malerischen Rebberge des Lavaux und bietet einen unvergleichlichen Blick auf den Genfersee. Heute hängt der Himmel tief. Grautöne spiegeln sich auf dem See. Am Horizont lassen sich die verschneiten Gipfel der Savoyer Alpen erahnen. Hier, in diesem Haus, in dem schon ihre Grossmutter lebte, wohnt Catherine Reymond Wolfer zusammen mit ihrem Mann Erwin. Eine Zeichnung an der Wand des Esszimmers verrät, dass sie vor einigen Monaten, im Oktober 2020, ihren 60. Geburtstag gefeiert hat. Sie wirkt jugendlich und hat sich ihr herzliches Lachen und ihr freimütiges Wesen bewahrt: «Ich bin sehr direkt», erklärt sie.

Wie schon ihr Vater und ihr Grossvater machte Catherine Reymond Wolfer zunächst eine Ausbildung als Lehrerin, bevor sie sich der Psychiatrie zuwandte. Diese hatte sie während ihrer Ferien als Praktikantin in der Psychiatrieabteilung für schizophrene Patienten kennengelernt. Im gleichen Spital absolvierte sie ihre zweite Ausbildung und arbeitete schliesslich als Fachfrau Gesundheit mit Spezialisierung in psychiatrischer Pflege.
 

Eine Familiengeschichte

Erkennt eine Fachfrau in psychiatrischer Pflege die ersten Anzeichen von Alzheimer bei sich selbst besser als andere? Nein, überhaupt nicht! Catherine Reymond Wolfer war vielmehr durch ihre Familiengeschichte darauf vorbereitet: Schon ihr Grossvater hatte Demenz und ihre Mutter erkrankte an Frühdemenz. «Mein Vater hat mich immer beschützt, aber trotzdem habe ich die Krankheit meiner Mutter von Anfang an bewusst erlebt. Ich weiss, was sie bedeutet», erklärt sie und versucht nicht zu verbergen, dass sie sich Sorgen über das machte, was auf sie zukommen würde.

Wie bei ihrer Mutter zeigten sich die ersten Anzeichen bereits früh, mit Mitte fünfzig. Ihr damaliger Vorgesetzter und langjähriger Freund, Roland Philippoz, erkannte die Auffälligkeiten als Erster: «Ich kannte ihre Familiengeschichte. Ich wusste seit Langem, dass es sie treffen konnte. Es kam somit nicht überraschend, aber es war das erste Mal, dass ein Mensch in meinem persönlichen und beruflichen Umfeld so früh von der Krankheit betroffen war.» Im Wissen um die Krankheitsgeschichte ihrer Mutter «hat Catherine ständig dagegen angekämpft. Sie wollte sich weder von der Krankheit zermürben lassen noch die anderen damit belasten», erinnert sich Roland Philippoz. In den Momenten, in denen die Konfrontation mit der Krankheit zu schmerzlich wurde, hat sie sie verdrängt und weitergearbeitet. «Es war ein stetes Hin und Her zwischen Annahme und Verdrängung. Da sie ihren Zustand nicht wahrhaben wollte, konnte ich auch nicht auf sie zugehen.» Gerade er wäre sicher ein guter Gesprächspartner gewesen.

Catherine Reymond Wolfer und Roland Philippoz arbeiteten während über dreissig Jahren Seite an Seite in der gleichen Abteilung in der ambulanten und der stationären Psychiatrie und gingen davon aus, zur gleichen Zeit pensioniert zu werden. Doch mit der Krankheit wurde alles anders. Die ersten Anzeichen gingen noch im geschäftigen Pflegealltag unter, doch mit der Zeit kam es immer mehr zu Verspätungen und vergessenen Terminen. Da Catherine Reymond Wolfer eine leitende Position innehatte, brachte dies die Organisation und Verwaltung der Abteilung durcheinander.
 

Schrittweise Anpassung der Aufgaben

In seiner Rolle muss Roland Philippoz manchmal schmerzhafte Entscheidungen treffen. «Wir sind seit Jahrzenten befreundet, aber ich trage eine grosse Verantwortung in dieser Institution und muss sie wahrnehmen. Ich musste die Probleme ansprechen.» Gemeinsam mit ihr und zusammen mit der Pflegedienstleitung und dem personalärztlichen Dienst haben wir regelmässig geprüft, welche Tätigkeiten noch möglich waren, und ihre Aufgaben dementsprechend angepasst. «Im Kontakt mit den Patienten, Kolleginnen, Kollegen und Angehörigen ging meistens alles gut. Hingegen machte es Catherine zunehmend Mühe, Abläufe zu organisieren: Sie vergass, Notizen für das Protokoll zu nehmen, und kam zu spät oder gar nicht an die Sitzungen. Ich habe sie mehrmals auf ihre Vergesslichkeit und Reizbarkeit angesprochen. Später habe ich erfahren, dass sie manchmal weinend nach Hause gegangen ist.» Sie erklärt: «Meine Fehler waren mir nicht bewusst und ich war sehr traurig darüber, dass ich es nicht besser machen konnte … »

Einige Monate später gab sie die Patientenbetreuung auf und übergab die Dossiers einer Arbeitskollegin. Doch schliesslich kam der Tag, an dem sie den Weg in eine andere Abteilung nicht mehr fand, obwohl sie sich im CHUV bestens auskannte. Das war für sie ein Wendepunkt. «Es wurde schwierig. Sie übte keine begleitete, repetitive Tätigkeit aus, sondern eine anspruchsvolle Aufgabe. Es galt, Kontakte zu pflegen, Aufgaben auszuführen, -Projekte zu koordinieren, Dossiers zu verwalten und Teams an verschiedenen Standorten zu unterstützen …», erklärt -Roland Philippoz. Ihm war klar, dass dies bald nicht mehr möglich sein würde. «Wir hatten alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Ich befürchtete, dass Catherine sich krankmelden würde. Dies hätte das Ende ihrer beruflichen Laufbahn bedeutet.» Gemeinsam mit der Leitung schlug er ihr schliesslich eine Frühpensionierung vor.

Am 10. März 2018 fand ein Fest statt, an dem die Arbeitskolleginnen und -kollegen, Freunde und Familienangehörigen von Catherine Reymond Wolfer teilnahmen. Weder die wahren Gründe ihres Abgangs noch die Krankheit wurden thematisiert. «Die Feier galt nicht der Krankheit, sondern es ging darum, ihr Arbeitsleben zu einem guten Ende zu bringen», betont Roland Philippoz. «Ein würdiger Abgang war mir wichtig», erklärt Catherine Reymond Wolfer. «Der richtige Zeitpunkt war gekommen. Heute fühle ich mich viel freier.» Neben langen Spaziergängen mit ihrem Hund, dem Garten, Ausflügen mit Freundinnen, gemeinsamem Kochen mit ihrem Mann und gemütlichen Abendessen mit Freunden hat sie das Radfahren entdeckt und fährt «mit Vollgas». Voller Energie erklimmt sie den Dorfweg, den die meisten Autofahrer meiden, weil er so steil ist!