Es ist Sonntagmorgen, ich treffe die Teilnehmenden und Betreuenden am Bahnhof Bern – wir fahren ins Tessin. Sie werden zusammen eine Woche Ferien machen und ich begleite sie die ersten drei Tage. Am Bahnhof Zürich legen wir einen Zwischenstopp ein, damit sich alle, die wollen, einen Znüni kaufen können, und damit Thierry* zu uns stossen kann. Auf der Fahrt schauen wir, ob alle ein gültiges Ticket haben – was nicht der Fall ist. Dank der SBB-App schaffen wir es aber nach einigen Verbindungsproblemen im Tunnel, ein zusätzliches Ticket zu organisieren. Der Kondukteur kommt vorbei und der «Rucksack-Tanz» beginnt: Rucksack öffnen, Rucksack durchsuchen, alle Taschen leeren, alles wieder einräumen, suchen und vergessen, was man sucht. Dieser Rucksack-Tanz wird sich mehrmals pro Tag in diesen Ferien wiederholen. Der Kondukteur ist verständnisvoll und sagt, dass er später wieder kommt. Schliesslich findet der Teilnehmer mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht das schwarze Portemonnaie auf dem Boden der schwarzen Rucksacktasche. Die darauffolgenden Gesten sind natürlich und wieder ganz automatisch: dem Kondukteur Halbtax und Ticket zeigen. Bevor wir am Bahnhof in Mendrisio ankommen, durchqueren wir die Alpen durch den Gotthard-Tunnel, der mit seinen 57 km der längste der Welt ist. Auf dieser Fahrt lernen wir unsere Gäste schon etwas besser kennen.
 

Ankommen und sich orientieren

Herzlich werden wir vom Tessin-Team empfangen: Lachen, Sonne, Wiedersehen stehen auf dem Programm. Alles ist so eingerichtet, dass die Teilnehmenden so viele Orientierungspunkte wie möglich haben: Alle Teilnehmenden bekommen eine Begleitperson für die ganze Woche zugeteilt, die im Hotel gleich im Zimmer nebenan schläft. An den Zimmertüren stehen die Namen, ein Schild verweist auf die Toiletten, auf einem anderen Schild stehen die Telefonnummern und Namen der Verantwortlichen. Nachdem alle kurz ihre Zimmer bezogen haben, treffen wir uns für einen Willkommenstrunk. Alle stellen sich vor, manche Teilnehmenden sind zum zweiten Mal in Serpiano in den Ferien und kennen bereits den Ort und auch die Organisatorinnen Zaira Scaravaggi und Véronique Favre. Wir sind acht Teilnehmende, ein betreuender Angehöriger, acht Betreuende, zwei Verantwortliche, ein Fahrer, drei Hunde und ich. Die Aktivitäten, die in dieser Woche auf dem Programm stehen und die Speisen, die es diese Woche zu den Mahlzeiten erwarten, werden uns im Detail erläutert, die Vorlieben und Nahrungsmittelunverträglichkeiten abgeklärt. Am Schluss bekommen alle ein Namensschild mit Schlüsselband von Alzheimer Schweiz. Dank den Namensschildern können wir uns direkt mit Vornamen ansprechen und erkennen. Vor dem Nachtessen haben wir noch Zeit, uns auszutauschen und uns einzurichten. Praktische Probleme oder Verständigungsschwierigkeiten erinnern mich daran, dass wir mit Menschen mit kognitiven Einschränkungen unterwegs sind: Wie soll man seine Kleider auf einem Bügel befestigen, der im Schrank fixiert ist, was sagt man einer Teilnehmerin, die sich in Italien wähnt und fragt, wer ihr diese Italien-Ferien ermöglicht hat? 
Wir treffen uns auf der Restaurantterrasse wieder. Der herrliche Blick über den Luganer See wird die Kulisse für jede unserer Mahlzeiten sein. Dieses Panorama dient auch als unsere Basis zum Kennenlernen des einen oder der anderen Teilnehmenden, für Gruppenfotos, für den Vorschlag, einen Spaziergang zu machen, um einen anderen Blick zu erhaschen etc. 
 

Bauernhofbesuch 

Am ersten Tag werden wir nach dem Morgenessen auf dem Bauernhof Stella erwartet, um Bekanntschaft mit den Tieren zu machen, die dort primär für soziale Zwecke gehalten werden. Manche von uns spazieren zu Fuss über schattige Wege durch den Wald dorthin, andere werden von unserem Fahrer Angelo, der uns die ganze Woche fahren wird, im Minibus zum Bauernhof gebracht. Dort angekommen, dürfen wir die Alpakas, Esel und Pferde striegeln. Manche Teilnehmenden halten lieber etwas Abstand, während andere zufrieden lächeln, wetteifern und mit einer Karotte in der Hand den Hasen hinterherjagen. Manchmal zeigt sich Alzheimer oder eine andere Demenzform als Übererregung, der es freien Lauf zu lassen gilt, damit die jeweilige Person ihren Energieüberschuss loswerden kann. Gleichzeitig muss man auch darauf achten, dass sie niemanden in Gefahr bringt – weder sich selbst noch andere noch die Tiere. Der Rahmen auf dem Bauernhof Stella ist ideal dafür und Elisabeth NAME, die Tierpflegerin, kennt die Reaktionen ihrer Tiere sehr gut. Als wir zum Alpaka-Gehege kommen, gibt sie uns sofort zu verstehen, dass wir in der Gruppe warten sollen, da die Tiere auf uns zukämen.
 

Sich austauschen, beobachten oder fotografieren

Der Ausflug wurde von allen sehr geschätzt. Er ermöglichte es, den Wortschatz zu erweitern, spontan, redselig oder zurückhaltend und in der Beobachterposition zu sein; er ermöglichte, dass alle zum Ausdruck bringen konnten, was sie im Moment erlebten. Eine Teilnehmerin brachte ihren Fotoapparat mit. Ihre Handbewegungen sind präzise, ihr Auge und die Suche nach dem richtigen Winkel sind effizient, wohingegen die Worte, mit denen sie uns zu erklären versucht, was sie macht, sich verheddern und den gegenwärtigen Moment mit Geschichten von früher vermischen, als sie noch professionelle Fotografin war. In ihrem Staunen über die Fotos, die es zu machen gilt, kann sie nicht mehr an ihre persönlichen Sachen denken. Wir passen auf, dass sie weder ihre Tasche noch ihren Geldbeutel oder ihre Sonnenbrille vergisst. Unsere Aufgabe besteht darin, unauffällige Hüter_innen der vergessenen Dinge zu sein, ohne die Teilnehmenden mit ihren Schwierigkeiten zu konfrontieren.
 

Begleiten, damit Gäste selbstbestimmt und sicher die Ferien geniessen

Die ganze Woche ist um verschiedene Aktivitäten herum organisiert: Manche finden im Freien mit einem Guide statt, andere im Hotel. Diese Aktivitäten, Spiele und Essenszeiten takten unsere Tage. Die Teilnehmenden äussern alle auf ihre Weise ihre Freude an den gemeinsamen Momenten – manche mit Leichtigkeit, andere mit ein paar Wörtern, durch Stille unterbrochen, wieder andere wortlos mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Das stelle ich in den drei Tagen immer wieder fest: Die Sprachschwierigkeiten sind sehr präsent, aber von Person zu Person verschieden. Die Betreuenden müssen ihre Kommunikation und ihren Umgang jederzeit anpassen. Ihre Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, der erkrankten Person zu ermöglichen, selbstständig zu sein und sich sicher zu fühlen, trotz aller Vergesslichkeit, Orientierungslosigkeit, Missverständnisse, Ängste oder Schwierigkeiten, sich zu äussern. Es gilt zu begleiten, was ich vorhin als Rucksack-Tanz bezeichnet habe: suchen, alles ausräumen, sortieren, das klingelnde Handy finden lassen und am Ende darauf achten, dass das Handy nicht unter der Bank oder dem Tisch vergessen geht. Zuhören, auf repetitive Fragen antworten und auf Unsicherheiten, z. B. «Wie komme ich wieder heim?» eingehen, für Frühaufsteher da sein, Umherirrende auf den Gängen des Hotels begleiten und Nachtmenschen ein Ohr leihen. 
Begleiten heisst allzeit aufmerksam zu sein, da sich alles verlieren und vergessen lässt. Es heisst auch, die Gruppe und jeden Einzelnen so zu akzeptieren, wie er oder sie ist, gleichzeitig professionell und diskret zu sein, sich aber auch an den gemeinsamen Erlebnissen bei einem Spaziergang oder im Schwimmbad zu erfreuen.
Schliesslich geht es in diesen Ferien vor allem darum, gemeinsam den so flüchtigen und wertvollen Moment zu geniessen. 

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