Am 14.7.22 erschien in der Schweizerischen Kirchenzeitung ein Interview von Susanne Wenger mit Stefanie Becker. Hier der Inhalt des Interviews:
 

Eine Demenzerkrankung beeinträchtigt die zeitliche Orientierung. Stefanie Becker, Direktorin von Alzheimer Schweiz, erklärt im Interview, warum das so ist und wie man am besten damit umgeht.
 

Zu einer Demenzerkrankung gehört, sich nicht mehr so gut in Raum und Zeit orientieren zu können. Wie äussert sich das bei der Zeit?

Stefanie Becker: Es fängt mit Kleinigkeiten an. Man weiss nicht mehr, was für ein Tag gerade ist. Wir alle kennen das aus den Ferien, da ist es meist ein gutes Zeichen. Bei einer Demenz hingegen weitet sich das später zu einer Desorientiertheit im grösseren zeitlichen Rahmen aus. Man weiss nicht mehr, ob Morgen oder Abend ist, Tag oder Nacht, und welche Jahreszeit wir haben. Auch hat Zeit bei einer Demenz mit der Wahrnehmung der eigenen Person zu tun. Die Vergangenheit wird viel präsenter. In einem weiter fortgeschrittenen Stadium erlebt man sich gegebenenfalls als jemand, die oder der viel jünger ist, eventuell sogar noch ein Kind.

Warum erinnern sich Menschen mit Demenz besser an die Vergangenheit als an das, was gestern oder gerade eben war?
Das liegt an den pathologischen Vorgängen im Gehirn. Nervenzellen lösen sich auf und damit die Orte oder Pfade, wo Erinnerungen gespeichert wurden. Deswegen ist bei einer Demenzerkrankung zunächst vor allem das Kurzzeitgedächtnis beeinträchtigt. Länger zurückliegende Erinnerungen bilden eine Gedächtnisspur, einem ausgetretenen Pfad vergleichbar. Ich finde den Weg auch noch, wenn er ein bisschen überwuchert ist. Bin ich ihn indes nur einmal gegangen, sind die Spuren am nächsten Tag weg.

Wie fühlt sich das schwindende Zeitgefühl für Menschen mit einer beginnenden Demenz an?
Jeder betroffene Mensch erlebt die Demenz auf individuelle Weise, auch wenn sich die Symptome insgesamt ähneln. Deswegen kann ich das nicht verallgemeinernd beantworten. Sicher erleben viele einen Kontrollverlust. Es macht auch Angst, wenn man Dinge vergisst – und vergessen heisst ja eben auch, nicht mehr zu wissen, was gestern war. Ich glaube, man verliert ein wenig den Anker in der Welt und ist sehr verunsichert.

Und wie ist das für die Angehörigen?
Am Anfang, bevor eine Diagnose vorliegt, vor allem eins: ärgerlich. Leider wird meist lange zugewartet, bis vorhandene Symptome abgeklärt werden. Das heisst, Angehörige haben wahrscheinlich schon eine längere Phase hinter sich, während der sie die Dinge zwanzigmal sagen und immer wieder die gleiche Frage beantworten mussten. Allenfalls erhielten sie sogar noch Vorwürfe, weil die demenzerkrankte Person das alles einfach nicht mehr einordnen kann. Ist die Diagnose dann da, ist es auch eine Erleichterung, weil man die Gründe für das Verhalten kennt. Schreitet die Erkrankung fort, kann es anstrengend werden. Wenn beispielsweise der Tag-Nacht-Rhythmus nicht mehr eingehalten werden kann, geht es ans Lebendige. Das ist sehr fordernd, sehr anstrengend, körperlich und emotional.

Welche Massnahmen helfen, um mit dem beeinträchtigten Zeitgefühl umzugehen?
Die Frage führt uns zu verschiedenen Aspekten von Demenz und Zeit. So benötigen Angehörige Zeit für sich, fürs Durchatmen, für die Selbstpflege. Das ist ganz wichtig, denn nur wenn sie zu sich selber schauen, können sie der demenzerkrankten Person beistehen. Wir empfehlen auch die frühzeitige Abklärung von Symptomen. Es gibt Erkrankungen, die ähnliche Symptome machen wie eine Demenz, jedoch reversibel sind: bestimmte Stoffwechselerkrankungen, Depressionen im Alter. Lautet die Diagnose tatsächlich Demenz, bedeutet frühzeitig auch rechtzeitig. Der betroffene Mensch hat noch einen Zeitraum vor sich, in dem die gesetzliche Urteilsfähigkeit gegeben ist. Er kann vorausplanend selbstständige Entscheide treffen, beispielsweise in einer Patientenverfügung oder dem letzten Willen.

Und welche Massnahmen helfen im Alltag, wenn die Kategorie Zeit sich allmählich auflöst?
In einem frühen Stadium von Demenz hilft es, im Umfeld Hinweise anzubringen, ähnlich den Post-its, die wir alle nutzen, um etwas nicht zu vergessen: Kalender, gut lesbare Uhren. Später dienen Routinen als Leitplanken, an denen sich demenzerkrankte Menschen orientieren können: regelmässige Mahlzeiten, nach dem Mittagessen ein kleiner Spaziergang, möglichst jeden Tag im gleichen Rhythmus.

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«Emotionen beeinflussen unser Gedächtnis stark, wie die Hirnforschung weiss.»
Stefanie Becker

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Auch jahreszeitliche Rituale sind hilfreich. Die betroffene Person kann zwar nicht mehr sagen, dass Winter ist, aber sie erinnert sich an ein spezielles Gericht, das in der Familie immer im Winter gegessen wurde. Oder man macht im Sommer die Hitze zum Thema und fragt die betroffene Person, wie sie das früher erlebt hat. Das schafft Anknüpfungspunkte, um die Gegenwart zum Thema zu machen.

Soll man Menschen mit Demenz, die in der Vergangenheit leben, in die Gegenwart zurückholen?
Nicht indem man sie korrigiert und ihnen sagt, sie seien doch längst kein Kind mehr oder der Ehemann sei gar nicht mehr am Leben. Das hilft ab einem bestimmten Punkt in der Demenzentwicklung einfach nicht mehr, sondern führt nur zu Frustration und Trauer. Man bestärkt die Person aber auch nicht darin, tut also nicht selber so, als wäre wieder die alte Zeit. Aber man kann als Gegenüber im Gespräch empathisch spiegeln und sagen: Ich merke, das beschäftigt dich/Sie. Oder man kann das Thema aufgreifen und darauf eingehen. Wähnt der demenzerkrankte Mensch sich etwa in der Schulzeit, kann man fragen, ob er gerne zur Schule gegangen sei oder Freundinnen hatte. Oft ist dann plötzlich wieder Aktivität da, und Betroffene erfahren Selbstwirksamkeit und positive Gefühle. Das ist ganz wesentlich.

Hat die Phase, an die demenzerkrankte Menschen sich erinnern, eine biografische Funktion?
ine Funktion vielleicht nicht, aber einen Grund. Oft sind es Themen oder Lebensabschnitte, die mit besonderen Ereignissen, Glück oder Belastung verbunden waren. Emotionen beeinflussen unser Gedächtnis stark, wie die Hirnforschung weiss. Was wir emotional intensiv erlebt haben, positiv wie negativ, bleibt uns stärker in Erinnerung. Deswegen ist es auch das, was bei Demenz am längsten abrufbar ist und dann auch Raum im Leben erhält.

Lassen sich bei Menschen mit Demenz auch Erinnerungen wecken?
Ja, das geht. Beispielsweise stimuliert Musik Erinnerungen, besonders die Lieblingsmusik und mit der Biografie verbundene Musik. Das ist etwas sehr Wertvolles, und es gibt inzwischen Angebote, unter anderem von der Universität Zürich. Werden durch Musik Emotionen und Erinnerungen geweckt, sind demenzerkrankte Menschen einen Moment lang wieder präsenter und ansprechbarer. Das ist eindrücklich zu sehen. Biografiearbeit ist grundsätzlich ein sehr wertvolles Therapiekonzept. Und bei der vaskulären Demenz, wenn also die Durchblutung im Gehirn nicht mehr gut ist, kann das Gedächtnis durch Bewegung gesteigert werden.

Wenn Menschen mit Demenz das Zeitgefühl abhandengekommen ist: Spielt es da eine Rolle, wie viel Zeit eine Pflegefachperson für sie hat?
Es spielt sogar eine grosse Rolle. Wer das Zeitgefühl verliert, braucht Anker, die sie oder er nicht mehr in sich selber findet, sondern in der Begegnung mit anderen. Deswegen ist es zentral, Zeit mit Demenzerkrankten zu verbringen. Das muss nicht Aktivierung bedeuten. Manchmal reicht es, die Hand zu halten, spürbar da zu sein. Das gibt der erkrankten Person Sicherheit und fängt ihr Verlorensein in Raum und Zeit auf. Gerade wenn sie die Welt kognitiv nicht mehr erfassen kann, werden soziale Kontakte und zwischenmenschliche Nähe umso wichtiger für die Lebensqualität. Die Emotionen gehen mit der Demenz nicht verloren. So sehr Menschen mit Demenz punkto Erinnerungen in der Vergangenheit leben, so sehr leben sie emotional-reaktiv in der Gegenwart. Im Hier und Jetzt sind sie sehr sensibel und authentischer als unsereins. Das kann für uns in der Begegnung ein Gewinn sein.