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Mann mit Demenz sitzt mit seiner Frau auf einer Bank

Alzheimer-Wirkstoff Aducanumab

Unter dem Markennamen Aduhelm ist in den USA das erste Alzheimer-Medikament auf den Markt gekommen, das die Auswirkungen einer Erkrankung nicht nur lindern, sondern die Gehirnfunktion sogar verbessern soll. Der im Medikament enthaltene Wirkstoff Aducanumab wird kontrovers diskutiert, da die Ergebnisse der zwei bisher durchgeführten klinischen Studien widersprüchlich sind. Trotz der unsicheren Datenlage und gegen die Empfehlung eines beratenden Expertenrats ist der Wirkstoff seit dem 7. Juni 2021 in den USA zugelassen. Die unkonventionelle Genehmigung hat weltweit viele Fragen aufgeworfen und Skepsis ausgelöst. In der Europäischen Union ist der Wirkstoff nicht zugelassen und in der Schweiz wurde die Zulassungsanfrage zurückgezogen.

Alzheimer Schweiz hat die wichtigsten Fakten zusammengestellt und mögliche Auswirkungen für die Menschen mit Fachspezialistinnen und -spezialisten diskutiert.  

Was ist Aducanumab?

Aducanumab ist ein von der Neurimmune AG in Schlieren (ZH) entdeckter Wirkstoff. 2007 ging die Lizenz an die amerikanische Firma Biogen, die zusammen mit der japanischen Partnerfirma Eisai an der Entwicklung und Vermarktung arbeitet. Aducanumab zielt auf die für die Alzheimer-Krankheit charakteristischen Eiweiss-Ablagerungen im Gehirn, das sogenannte Beta-Amyloid (auch Plaques genannt), kurz Aß. Aß gilt nach aktuellem Wissenstand als einer von zwei Eiweissstoffen, welche ursächlich für die Alzheimer-Krankheit sind. Aducanumab ist ein Antikörper, der sich gegen diese Aß-Ablagerungen im Gehirn richtet. Ziel ist es, mittels passiver Immunisierung dazu beizutragen, dass die Immunzellen das Eiweiss im Gehirn erkennen und abbauen. Damit könnte einer Zerstörung von Nervenzellen entgegengewirkt werden. Durch den Abbau der Eiweissablagerungen soll Aducanumab das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit deutlich verzögern. Aducanumab wäre damit der erste Wirkstoff, welcher auf einen grundlegenden Mechanismus der Erkrankung einwirkt. Der Wirkstoff ist in den USA unter dem Medikamentenname Aduhelm erhältlich.  

Was passiert bei der Alzheimer-Krankheit und welche Rolle spielen Plaques aus Beta-Amyloid dabei? Die Alzheimer Forschung Initiative e.V. erklärt in ihrem Video in einfachen Worten die komplexen Vorgänge.  

 

Was ist der Unterschied von Aducanumab und Aduhelm? 

Aducanumab ist der Wirkstoff des in den USA unter dem Markenname Aduhelm zugelassenen Alzheimer-Medikaments.  
 

Wie wirkt das Medikament Aduhelm? 

Der Wirkstoff wurde in zwei grossen Phase-III-Studien an mehr als 3’200 Probandinnen und Probanden mit frühem Stadium einer Alzheimer-Erkrankung während 18 Monaten getestet. Eine nachträgliche Analyse zeigte bei einer der zwei Studien Wirkung: Je höher die Dosierung und je länger Aducanumab verabreicht wurde, desto positiver war der Effekt. Bei einigen Studienteilnehmenden waren die Eiweiss-Ablagerungen nach einem Jahr nahezu vollständig entfernt. Auch ihr Gedächtnis hatte sich leicht verbessert. Die Studienergebnisse werden in der Fachwelt kontrovers diskutiert (siehe «Umstrittene Zulassung in den USA» weiter unten).  
 

Kann Aduhelm Alzheimer heilen?  

Aducanumab ist kein Wundermittel und kann die Alzheimer-Krankheit nicht heilen. Es kann die für die Alzheimer-Krankheit spezifischen Eiweissablagerungen im Gehirn abbauen. Ob damit aber auch eine Stabilisierung oder gar eine Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit einher geht, ist bis heute nicht erwiesen.  
 

Für wen ist das Medikament Aduhelm geeignet?  

Bereits verloren gegangene Nervenzellen kann auch dieser Wirkstoff nicht zurückbringen. Darum eignet sich die Therapie für Personen, die bisher nur wenig geistige Leistungsfähigkeit eingebüsst haben. Pflicht ist der Nachweis der Alzheimer-typischen Amyloid-Plaques bei den Erkrankten. Dies ist mit aufwendigen Voruntersuchungen verbunden. Der Nachweis für die Eiweissstoffe im Gehirn liefert eine Analyse der Rückenmarksflüssigkeit mittels Punktion oder Hirnscan. Beide Methoden führen nur Spezialkliniken durch und sind kostenintensiv.  
 

Wie wird Aduhelm eingenommen? 

Der Wirkstoff wird regelmässig, in Form von monatlichen intravenösen Infusionen verabreicht. Zur Überwachung möglicher Nebenwirkungen können zusätzlich regelmässige MRT-Untersuchungen, ein bildgebendes Untersuchungsverfahren, notwendig sein. 
 

Welche Nebenwirkungen sind bekannt? 

Wie bei jedem Medikament können bei einer Behandlung mit Aduhelm auch Nebenwirkungen auftreten. In den bisherigen Phase-3-Studien zeigten 35 Prozent der Proband*innen unter hoher Dosierung Nebenwirkungen wie Hirnschwellungen, Wassereinlagerungen, Übelkeit und Schwindel. Nach Absetzen des Medikaments haben sich diese jedoch in den meisten Fällen wieder zurückgebildet.  
 

Was kostet die Therapie? 

Bislang ist dieser Preis nur für den amerikanischen Markt festgelegt. Der Listenpreis von Aduhelm beträgt dort 28'200 (früher 56'000) US-Dollar pro Jahr. In diesem Preis nicht inbegriffen sind die Kosten für die notwendigen Voruntersuchungen zum Nachweis des Eiweisses Beta-Amyloid und weitere Begleituntersuchungen zur Überwachung der Nebenwirkungen.  
 

Ist das Medikament Aduhelm in der Schweiz erhältlich?  

Aduhelm ist hierzulande nicht erhältlich. Mitte April 2021 reichten Biogen/Eisai ein Zulassungsgesuch für die Schweiz beim schweizerischen Heilmittelinstitut Swissmedic ein. Am 11. Mai 2022 zog Biogen Switzerland das Zulassungsgesuch jedoch zurück.

 

Der Zulassungsentscheid der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA spaltet die Forschungsgemeinde weltweit. Was spricht für und was gegen eine Zulassung des Wirkstoffes Aducanumab? Wir haben die wichtigsten Pro- und Contra-Argumente zusammengefasst: 

Umstrittene Wirkung

Der Wirkstoff Aducanumab wurde in zwei grossen Phase-3-Studien «Emerge» und «Engage» an mehr als 3’200 Probanden in frühem Stadium ihrer Alzheimer-Erkrankung getestet. Aufgrund einer Zwischenanalyse, welche die Daten von rund 1’700 Probanden berücksichtigte, stuften die Forschenden das Erreichen der Studienziele als unwahrscheinlich ein. Daraufhin brachen sie die Studien im März 2019 vorerst ab. Während der Analysephase wurden jedoch die Studienteilnehmenden weiter mit Aducanumab behandelt und damit auch weitere Daten zur Wirkung erhoben. Diese zusätzlichen Daten wurden erst in einer späteren Auswertung berücksichtigt. Diese Post-Hoc-Auswertung zeigte bei einer der zwei Studien eine leicht positive Wirkung auf.  

Eine nachträgliche Auswertung gescheiterter Studien ist grundsätzlich nicht unüblich. Sie dient dazu, aus Fehlern zu lernen. Um herauszufinden, warum ein Wirkstoff nur bei einem Teil der Proband*innen wirkte, braucht es unter solchen Bedingungen normalerweise eine weitere, neue Studie. Daher sah auch ein unabhängiges Expertengremium, das die FDA berät, die vorliegenden Daten nicht als schlüssigen Beweis für die Wirksamkeit von Aducanumab und empfahl die Ablehnung der Zulassung. Für die Expertinnen und Experten steht fest: Der Wirkstoff Aducanumab vermag es, die schädlichen Eiweissablagerungen im Gehirn aufzulösen. Ob dadurch tatsächlich die Nervenzellen der Patient*innen gerettet und das fortschreitende Vergessen gestoppt werden kann, ist jedoch noch nicht abschliessend geklärt.  

Trotz der unschlüssigen Datenlage entschied sich die FDA für eine Zulassung mit Bedingungen: Weitere klinische Studien sollen den Nutzen des Medikaments verifizieren. Die Ergebnisse dieser Phase-IV-Studie muss Biogen bis Februar 2030 publizieren. Sollten die Ergebnisse negativ ausfallen, würde die FDA die Zulassung wieder entziehen. Bis dahin kann Biogen das Medikament vertreiben und potenziell Milliardenbeiträge erwirtschaften.   

Zwischenzeitlich haben drei Experten das unabhängige Gremium, welches die FDA berät, verlassen. Sie stören sich an der Zulassung gegen ihre Empfehlung. Sie sind der Überzeugung, dass das Medikament keine Vorteile für die Betroffenen im Alltag bringt.  

Neue Ära von Therapiemöglichkeiten

Neben den vielen kritischen Stimmen kommt auch positives Echo aus der Fachwelt. Für Befürworter*innen ist die Zulassung ein erster wichtiger Schritt in Richtung eines wirksamen Medikamentes. Patrizia Cavazzoni, Direktorin des Center for Drug Evaluation Research der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA, begründet den Entscheid wie folgt: «Diese Therapiemöglichkeit ist die erste, die auf den zugrundeliegenden Krankheitsprozess von Alzheimer abzielt und diesen beeinflusst. Wie wir aus dem Kampf gegen Krebs gelernt haben, kann der beschleunigte Zulassungsweg Therapien schneller zu den Patienten bringen und gleichzeitig zu mehr Forschung und Innovation anspornen». Weitere Beobachter ziehen den Vergleich zu den ersten HIV-Medikamenten. Auch da war bei den ersten Arzneien nur ein kleiner Effekt zu verzeichnen. Die frühen Therapieformen waren jedoch Ausgangslage für eine Reihe von Kombinationsanwendungen, die schlussendlich zum Wendepunkt im Kampf gegen die Krankheit führte. 

Alzheimer ist eine multifaktorielle Erkrankung. Das heisst, verschiedene Faktoren sind an der Entstehung beteiligt. Die Ausprägung kann sich von Person zu Person massiv unterscheiden. Bei dieser Heterogenität und Komplexität ist es wahrscheinlich, dass ein einziges Medikament nicht den grossen Erfolg bringt, sondern verschiedene Medikamente zu einer individuellen Therapie zusammengestellt werden müssen. Auch andere Wirkmechanismen sind wichtig und bedürfen der Forschung. Die Hoffnung bleibt, das Aducanumab das erste Puzzle-Teil zu einer wirkungsvollen Heilung von Alzheimer sein kann.  

Auch «Apropos – der tägliche Podcast» des Tagesanzeigers geht unter anderem der Frage nach, warum die Zulassung umstritten ist. Wissenschaftsredaktorin Anke Fossgreen bringt es auf den Punkt. Reinhören lohnt sich!   

Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) hat am 17. Dezember 2021 die Zulassung des Alzheimer-Medikamentes Aducanumab abgelehnt. Die Behörde folgt damit der Empfehlung eines Expertengremiums, dem Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der EMA. Dieser hatte bereits Mitte November 2021 ein «negatives Trendvotum» bekannt gegeben.

Die EMA begründet ihren Entscheid damit, dass Biogen nicht genügend wissenschaftliche Beweise vorlegen konnte, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Aducanumab nachzuweisen. Biogen hat eine erneute Prüfung der Zulassung beantragt, diese aber am 22. April 2022 zurückgezogen. Im Juni 2022 hat Biogen eine Phase IV-Studie mit Aducanumab gestartet.

Im April 2021 reichten Biogen/Eisai ein Zulassungsantrag beim schweizerischen Heilmittelinstitut Swissmedic ein. Dieses wurde jedoch im Mai 2022 zurückgezogen.

Kein Durchbruch – aber berechtigte Hoffnung? 

Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist Aduhelm nicht der Durchbruch in der Therapie der Alzheimer-Krankheit. Wie bei anderen Therapien für schwere, chronische Erkrankungen (z.B. AIDS) braucht es noch viele weitere Schritte, um – so die Hoffnung – ein möglichst gut wirksames Medikament zu erhalten. Eine abschliessende Beurteilung wird erst durch die zusätzliche klinische Studie möglich. Alzheimer Schweiz begrüsst daher insbesondere den Entscheid der FDA und der EMA, weitere Sicherheits- und Wirksamkeitsdaten zu verlangen. Dadurch können bestehende Bedenken ausgeräumt und das Vertrauen der Patient*innen, aber auch der behandelnden Ärzt*innen gewonnen werden.  

Mehrere beteiligten Prozesse –mehrere Medikamente notwendig? 

Alzheimer Schweiz geht davon aus, dass ein Medikament für die erfolgreiche Therapie oder gar Heilung der Alzheimer-Krankheit nicht ausreichen wird. Auch weitere krankhafte Ablagerungen im Inneren der Nervenzellen von Alzheimer-Patient*innen (sogenannes Tau-Eiweiss Protein) stehen in engem Zusammenhang mit der Krankheit. Im Gegensatz zum Beta-Amyloid auf das Aduhelm zielt, können sie nicht Jahre vor den ersten Symptomen nachgewiesen werden. Die in Expertenkreisen diskutierte «Kombinationstherapie» könnten ein erfolgsversprechender Ansatz sein. Mit zwei oder mehreren Wirkstoffen werden so die verschiedenen Ursachen der Alzheimer-Krankheit bekämpft. Zurzeit sind verschiedene klinische Studien in der Pipeline, welche auch auf andere der beteiligten Mechanismen abzielen. In den ersten Untersuchungsphasen haben sie bereits vielversprechende Ergebnisse erbracht. Diese neuen Wirkstoffe können gerade in Kombination mit Aduhelm umso bedeutender sein. Doch um das herauszufinden, sind noch viele Studien notwendig.  

Transparente Information, Beratung und Unterstützung bleiben wichtig 

Alzheimer Schweiz betont die Notwendigkeit transparent und mit realistischen Erwartungen über die Wirkung des Medikaments und seine Nebenwirkungen zu kommunizieren. Es dürfen keine falschen Hoffnungen geschürt werden.   

Des Weiteren begrüsst Alzheimer Schweiz den Entscheid von Biogen das Zulassungsgesuch in der Schweiz zurückzuziehen und somit die Patientensicherheit in den Vordergrund zu stellen.

Der  Fortschritt in der Behandlung von Menschen in den früheren Stadien von Alzheimer ist dennoch wichtig und ermutigend. Für Alzheimer Schweiz  gehören jedoch weiterhin der ganzheitliche Ansatz und Behandlungsmöglichkeiten in allen Krankheitsstadien zu den wichtigsten Faktoren für hohe Lebensqualität mit der Erkrankung. Es braucht daher auch weitere Forschung zu anderen nicht-medikamentösen Therapieformen.   

 

Was bedeutet die Zulassung in den USA für die Menschen in der Schweiz?

In verschiedenen Experten-Gesprächen gehen wir dieser Frage auf den Grund.   

 

Wie bewerten Fachleute die Zulassung?

Im Gespräch: Dr. Ansgar Felbecker, Präsident Swiss Memory Clinics

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Wie bewerten Betroffene die Zulassung?

Im Gespräch: Stefan Müller, Jungerkrankter

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Wie funktioniert die Zulassung von Medikamenten?

Im Gespräch: Dr. Claus Bolte, Bereichsleiter Zulassung – Marketing Authorization, Swissmedic

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Weitere Therapiemöglichkeiten 

Mann nimmt Medikament ein

Bisherige in der Alzheimer-Therapie eingesetzte Medikamente wirken indirekt, indem sie die Hirnleistung stimulieren, den Krankheitsverlauf damit etwas verzögern und vor allem die Begleiterscheinungen der Erkrankung wie beispielsweise Depression oder Unruhe günstig beeinflussen. 

Der Beitrag «Medikamentöse Therapie bei Demenz» bietet einen Überblick.


Mann in der Kunsttherapie

Neben medikamentösen Behandlungsformen gibt es auch nichtmedikamentöse Therapien, die insbesondere bei Begleitsymptomen und psychischen Symptomen helfen.

Der Beitrag «Nichtmedikamentöse Therapien» bietet einen Überblick.