Die Mutter von Lea S.* lebt seit Kurzem in einem Pflegeheim. Das Personal erklärt der Tochter, dass ihre Mutter aufgrund ihrer Demenzerkrankung als nicht mehr urteilsfähig gilt. Bei einem Besuch im Heim erlebt Lea S. ihre Mutter im Gegensatz zu früher als sehr apathisch. Sie erfährt, dass die Mutter auf Verschreibung des Arztes ein Beruhigungsmittel (Benzodiazepin) erhält. Da die Mutter aus Sicht der Tochter bisher nie ein schwieriges Verhalten gezeigt hat, stellt sie die Frage, weshalb sie – als Vertreterin der Mutter – nicht über diese Medikation in Kenntnis gesetzt wurde. Sie verlangt zudem Einsicht ins Krankendossier, um mehr Informationen zur Frage der Urteilsfähigkeit zu erhalten. Das Pflegepersonal verweigert ihr dies.

Auch die Mutter von Peter W.* befindet sich in einem Pflegeheim und wird als urteilsunfähig eingestuft. Auf Anfrage, was das zu bedeuten habe, wird ihm gesagt, dass seine Mutter als nicht mehr urteilsfähige Person zur Behandlung nicht mehr befragt würde. Sie würde automatisch durch den ältesten Sohn vertreten. Peter W. möchte wissen, wie die Urteilsfähigkeit abgeklärt wird und welche Rechte und Pflichten er als ältester Sohn hat.
 

Wer urteilsfähig ist, entscheidet selbst

Die Beispiele zeigen, dass viel Unsicherheit bezüglich der Urteilsfähigkeit von Menschen mit Demenz besteht. Die Frage der Urteilsfähigkeit ist wichtig, um bestimmen zu können, ob jemand selbst sein Einverständnis zu einer Behandlung geben kann oder ob eine Drittperson für ihn entscheiden muss. Grundsätzlich ist vor jeder Behandlung die Urteilsfähigkeit abzuklären.1 Bei Menschen mit schwerer Demenz besteht allerdings die gesetzliche Vermutung, dass sie nicht mehr urteilsfähig sind. Sicher ist es falsch, einer Person mit einer Demenzdiagnose die Urteilsfähigkeit grundsätzlich abzusprechen. 
 

Entscheidungs- und Auskunftsrechte der Angehörigen

Ist eine Person nicht mehr urteilsfähig, ist zu prüfen, ob eine Patientenverfügung vorliegt, aus der ihre Wünsche ersichtlich sind oder ob sie eine Vertrauensperson bezeichnet hat, die an ihrer Stelle entscheiden soll. Fehlt eine solche Bestimmung und liegt auch keine Beistandschaft vor, gilt eine gesetzliche Reihenfolge der entscheidungsberechtigten Personen (Art. 378 ZGB). Es ist nicht zutreffend, dass in erster Linie der älteste Sohn entscheiden kann. Zentrale Kriterien für die Vertretungsperson sind sowohl der Verwandtschaftsgrad als auch die Intensität der Beziehung. Bei medizinischen sowie pflegerischen Fragen soll diejenige Person entscheiden können, die der nicht mehr urteilsfähigen Person am nächsten steht. Sie sollte sich dabei an deren mutmasslichem Willen orientieren. 

Damit Angehörige angemessene Entscheidungen treffen können, müssen sie von ärztlicher oder pflegerischer Seite auch informiert werden über den Gesundheitszustand der urteilsunfähigen Person und über Behandlungsoptionen (Art. 377 ZGB). Dies schliesst ein, dass die vertretungsberechtigte Person Einsicht ins Krankendossier verlangen kann, wenn es für eine Entscheidung notwendig ist. Medikamentöse Ruhigstellungen müssen – ausser in Notfällen – mit der vertretungsberechtigten Person abgesprochen werden. 

Es zeigt sich also, dass vertretungsberechtigte Angehörige durchaus Einfluss nehmen können auf Entscheidungen, die ihre nicht mehr urteilsfähigen Nächsten betreffen. Sind Angehörige mit dem Vorgehen des ärztlichen oder des pflegerischen Personals nicht einverstanden und fruchten Gespräche nichts, steht letztlich der Weg  über die Erwachsenenschutzbehörde offen.

1. Wie sorgfältig die Urteilsfähigkeit abgeklärt werden muss, zeigen die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) «Urteilsfähigkeit in der medizinischen Praxis».

*Name der Redaktion bekannt