Tag der Kranken: Catherine Reymond Wolfer, ehemalige Pflegefachfrau

«Ich bin glücklich, ich brauche nicht viel»

Catherine Reymond Wolfer hat einen starken Charakter und nimmt kein Blatt vor den Mund. Ihre Stimmung schwankt zwischen Traurigkeit und fröhlichem Lachen. Sie erklärt freimütig, was sie denkt und fühlt. Wer Dinge sagt, die ihr nicht gefallen, den weist sie schnell in die Schranken. Heute ärgert sie sich über ihren Mann Erwin, der über seine Ängste und seine Ohnmacht spricht, als sie sich eines Tages verirrt hatte: Eines Tages war sie von ihrem Spaziergang «Mit einer guten Portion Optimismus ist das Leben viel schöner»: Erwin und seine früh an Alzheimer erkrankte Frau Catherine. nicht zurückgekommen. Er suchte sie überall und rief schliesslich am Abend die Polizei zu Hilfe, um sie zu finden. Sie gesteht zwar ein, dass sie manchmal den Weg nicht mehr findet, erklärt aber im gleichen Atemzug, dass sie auch heute noch seine Schreibfehler korrigiert. Und dass sie die Lieder, die sie seit ihrer Jugend singt, noch immer auswendig kann. Zum Beweis stimmt sie gleich ein klassisches Lied auf Lateinisch und ohne Musikbegleitung an – am Esstisch, im zum Loft umgebauten Dachboden ihres Hauses im kleinen Dorf Chardonne, inmitten der Weinberg-Terrassen der Region Lavaux.
 

Erste Anzeichen mit Mitte Fünfzig

Die ersten Anzeichen von Alzheimer haben sich bei Catherine bereits Mitte Fünfzig bemerkbar gemacht. Schon ihre Mutter war früh an Demenz erkrankt. So wusste sie, was die Erkrankung für den Alltag bedeutet, und dass sie unvermeidlich fortschreitet. Nach ihrer Erstausbildung zur Lehrerin hatte sie während dreissig Jahren als spezialisierte Pflegefachfrau auf einer Psychiatrieabteilung mit stationärem und ambulantem Bereich gearbeitet. Mit der Zeit machte sich die Krankheit stärker bemerkbar und es kam wiederholt zu Fehlern und Verspätungen. Deswegen beendete sie die berufliche Tätigkeit im Alter von 58 Jahren, im Einvernehmen mit ihrem Vorgesetzten. «Es war wichtig für mich, mein Arbeitsleben gut abzuschliessen», meint sie. «Es war der richtige Moment für meinen Abgang.» Sie freute sich darauf, mehr Zeit für Wandern, Velo- und Skifahren, Gärtnern, ihre Freundinnen und gemütliche Abendessen in geselliger Runde zu haben.
 

Ein neues Leben

Heute ist Catherine 61 Jahre alt und immer noch sehr sportlich. Sie marschiert manchmal so schnell los, dass Erwin ihr kaum folgen kann. Sie liebt das Skifahren und Skitouren und kann den Winter jeweils kaum erwarten. Doch sie wagt sich nicht mehr allein auf die Piste. Sie hat Angst davor, sich zu verirren oder bei ihrer Rückkehr ihren Mann nicht zu Hause anzutreffen.

Das Paar musste sein Leben neu organisieren. Seit einem Jahr kommt zudem Raphael nach Chardonne, um sich um Catherine zu kümmern. Er ist eine Fachperson von Alzami, einem von Alzheimer Vaud ins Leben gerufenen Begleitdienst. Auf dem Programm stehen Spaziergänge, Museumsbesuche, Zugreisen und andere Ausflüge. Bei schlechtem Wetter bleiben die beiden zu Hause und singen gemeinsam. Die Begeisterung für das Singen hat Catherine von ihrem Vater. Er war Musiklehrer und Gründer des Conservatoire de Morges. Die beiden passen gut zusammen, denn auch Raphael singt gern. Er ist Mitglied eines gemischten korsischen Chors.

Catherine liebt ihr Leben und geniesst es. «Ich bin glücklich. Ich brauche nicht viel. Dank meiner Familie und meinen Freundinnen und Freunden habe ich Freude am Leben.» Ihre Augen leuchten, wenn sie über die «Ya-Ya» spricht, eine Gruppe von vier Freundinnen, die sich als Zwanzigjährige während der Lehrerinnenausbildung kennengelernt hatten und seither immer in Kontakt geblieben waren. Das Quartett trifft sich regelmässig zum gemeinsamen Essen, Wochenenden oder Ferien in der französischen Region Vendée. Auch eine Freundin des Paars «kümmert sich wie eine Mutter um Catherine», wie Erwin betont. Er selber kocht jeden Tag und die vielen Freunde des Paars kommen gerne zum Essen. Oft sitzen sie zu fünft oder zu sechst am Tisch. Manchmal kommt nur der Nachbar vorbei, aber zuweilen sind es auch zwanzig Gäste. Sie schätzt diese geselligen Momente.
 

Wertvolle Helferinnen und Helfer

«Pflegender Angehöriger zu sein ist schwer…», meint Catherine Reymond Wolfer nachdenklich. Ihr ist bewusst, dass sich ihr Mann gut um sie kümmert, auch wenn er nicht immer die richtigen Worte findet. Deswegen sind Freund:innen und Sozialkontakte so wertvoll. Sie tun nicht nur ihr gut, sondern helfen auch ihm. «Manchmal fühle ich mich einsam, das ist nicht immer einfach», sagt Erwin Wolfer. Spontane Unterstützungsangebote wie Anfang Januar, als eine Freundin des Paars einen Neujahrgruss schickte und ihre Hilfe anbot, nimmt er gerne an: «Wenn ich etwas vorhabe, das ich mit Catherine nicht machen kann, rufe ich sie sicher an. Eine spontane Betreuung hilft mir sehr.» So kann er sich in seinen Minibus setzen und einen oder zwei Tage verreisen, um mit dem Gleitschirm zu fliegen oder zu segeln – Aktivitäten, die er schon immer gepflegt hat und die ihm viel Freude bereiten. Letzten Herbst reiste er zwei Wochen nach Korsika, um Freunde zu besuchen und sich zu erholen, während sich Angehörige abwechselnd um seine Frau gekümmert haben. «Der Alltag nicht immer einfach. Manchmal belastet mich die Situation. Aber es ist wichtig, dass Catherine weiterhin hier leben kann. Ich tue alles, um ihr das zu ermöglichen. Sie liebt ihr Zuhause». Er kümmert sich um das Haus, die Küche und den Haushalt. Die Einkäufe erledigen sie gemeinsam mit ihrem Hund Pablo. Oder sie nehmen den Rucksack, wandern bis zum Seeufer hinunter und nehmen dann bei der Rückkehr die Seilbahn. Manchmal fahren sie bis zum Mont-Pèlerin hinauf. «Catherine kann nicht mehr allein sein. Das ist jetzt einfach so.»
 

«Die Chemie muss stimmen»

So ist die Idee aufgekommen, eine Person anzustellen, die im Loft im obersten Stock des Haues wohnen könnte. «Aber ich suche sie aus», erklärt sie in einem Ton, der keinen Widerspruch zulässt. «Ich will diese Person vorher sehen. Die Chemie muss stimmen!», fügt sie mit einem belustigten Lächeln hinzu. Das Paar hat viel Humor und die kleinen Zankereien sind schnell vorbei. «Der Humor hilft uns, positiv zu bleiben. Und mit einer guten Portion Optimismus ist das Leben viel schöner», erklärt er. «Du hast das Glück, hier zu leben und ich habe das Glück, mit einer Frau wie dir zusammen zu sein. Vor einunddreissig Jahren haben wir einander versprochen, zusammen zu bleiben, in guten und in schlechten Zeiten…», erklärt er mit zärtlichem Blick.

Text: Anne-Marie Nicole

Dieser Artikel erschien im Magazin "Krankenpflege | Soins infirmiers | Cure infermieristiche  (02 2022)"