Ein begeistertes und entspanntes Publikum findet sich an diesem Juninachmittag im Château de Beaulieu in Lausanne ein, das die bekannte Collection de l’Art Brut (CAB) beherbergt. Dies ist der dritte einer Reihe von vier Besuchen im Rahmen des Pilotprojekts «pARTage: visites au musée» von Alzheimer Vaud. Mali Genest arbeitet seit über zwanzig Jahren als Kulturvermittlerin in der CAB. Sie zeigt sich als talentierte Erzählerin und fesselt die Aufmerksamkeit ihres Publikums mit spannenden Erklärungen zum ersten Werk des heutigen Besuchs, ein imposantes Triptychon des holländischen Künstlers Willem van Genk, das eine Militärparade zur Feier des 1. Mai auf dem Roten Platz zeigt. Die Gruppe sitzt ihr im Halbkreis gegenüber. Sie lädt ihre Zuhörer*innen regelmässig ein, ihre Eindrücke über das Werk zu äussern, wendet sich aber nur an die sechs Personen mit neurokognitiven Störungen, die auf Klappstühlen in der ersten Reihe sitzen. Die Begleitpersonen, meistens Freiwillige oder manchmal pflegende Angehörige, sitzen im Hintergrund und beschränken sich auf ihre Betreuerrolle. «Diese Panzer machen mir ein bisschen Angst», kommentiert ein Teilnehmender das Gemälde. «Eine dunkle Zeit, mit viel Rot … », fügt eine andere hinzu. «Dorthin möchte ich nicht reisen», meint eine dritte. 

Mali Genest wurde von Alzheimer Vaud speziell geschult und sensibilisiert. Sie ermuntert ihre Zuhörenden, das Bild zu kommentieren und lässt dabei persönliche Erlebnisse und Erinnerungen aufleben. Sie reagiert wertschätzend, formuliert Gesagtes um, widerspricht nicht, «aber falsche Identifikationen fördere ich nicht», betont sie. Wichtig ist, jedes Mal eine subtile Balance und den richtigen Rhythmus im spontanen Austausch zu finden. Als Ritual zum Abschluss der Betrachtung eines Werkes stellt die Mediatorin immer die gleiche spielerische Frage, um die Vorstellungskraft der Teilnehmenden anzuregen: «Welchen Titel würden Sie diesem Werk geben?» Nach der Betrachtung von drei Werken im Rahmen des Besuchs klingt der Nachmittag bei geselligem Zusammensein und einem kleinen Imbiss aus. 
 

Ein glücklicher Zufall

2019 stellte der Verein Alzheimer Vaud Überlegungen zu möglichen weiteren Angeboten an, und wie es der Zufall wollte, stand er in Kontakt mit Susanne Nieke, die einige Jahre zuvor an einem Projekt des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich mitgewirkt hatte: «Aufgeweckte Kunst-Geschichten», ein Projekt, das Menschen mit neurokognitiven Störungen dazu animiert, anhand der Betrachtung von Kunstwerken in Museen gemeinsam Geschichten zu erfinden. Der Nutzen dieser begleiteten Museumsbesuche für die verschiedenen Zielgruppen ist wissenschaftlich belegt. 

Zwar haben dieses Projekt sowie andere Initiativen im In- und Ausland Alzheimer Vaud zu «pARTage: visites au musée» inspiriert, doch dieses Vorhaben verfolgt keine wissenschaftlichen Ziele. Das im Frühling gemeinsam mit der CAB aufgegleiste Projekt zielt darauf ab, den Blick auf die Krankheit zu verändern. Während den Besuchen rückt sie in den Hintergrund. Es geht vielmehr darum, die sozialen Kompetenzen und Ressourcen von Menschen mit Gedächtnisstörungen zu stärken. «Die Eigenheit der Kunst ist, dass es weder richtig noch falsch gibt; die Teilnehmenden können also nichts falsch machen», erklärt Cathy Kuhni, Geschäftsleiterin von Alzheimer Vaud. «Die Kunst ist der Königsweg, um Gefühle und Gemütszustände mitzuteilen.»

Die Idee des von Alzheimer Vaud initiierten Projekts ist auch, den Betroffenen eine Stätte der Begegnung, des Austausches und der Diskussion zu bieten, wo Respekt und Wohlwollen im Vordergrund stehen und keine Urteile gefällt werden. «Wir wünschen uns eine Win-Win-Situation für alle Zielgruppen: Die Betroffenen, die Angehörigen, die Freiwilligen, die Mediatoren*innen und das Museumspersonal, aber auch für die Öffentlichkeit und für den Verein, der mit diesem Vorhaben über den gewohnten Rahmen hinausgeht und die Kultur fördert», meint die heutige Projektleiterin bei Alzheimer Vaud und treibende Kraft hinter den Museumsbesuchen, Susanne Nieke, gemeinsam mit ihrer Kollegin, der Projekt- und Ausbildungskoordinatorin Nicole Gadient.
 

In der Praxis

Konkret wendet sich die Waadtländer Initiative an eine kleine Gruppe von französischsprachigen Personen mit leichten bis mittelschweren Gedächtnisstörungen, die in Lausanne und Umgebung leben. «Dieses Angebot richtet sich an Personen, die optimal davon profitieren können», betont Nicole Gadient. Das Programm umfasst einen Zyklus von vier Museumsbesuchen und Animationen vor Kunstwerken, die im Vorfeld gemeinsam von der Mediatorin und von Alzheimer Vaud bestimmt werden. «Eine gewisse Anzahl von Besuchen schafft eine Gewohnheit, festigt die Beziehung zwischen dem Begleiter und dem Teilnehmenden und sorgt für ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft», erklärt Mali Genest. 

Das Projekt «pARTage» beinhaltet auch eine Schulung und Sensibilisierung für neurokognitive Störungen: ein halber Tag für Freiwillige jeden Alters und Profils sowie für das Museumspersonal und zwei Halbtage für die Mediatoren*innen. Auf dem Programm stehen eine Präsentation des Konzepts der Museumsbesuche, theoretische Grundlagen zur Krankheit sowie Kommunikation und angemessenes Verhalten anhand von Praxissituationen.

Für eine Bilanz ist es noch etwas früh, doch die Echos, spontanen Kommentare und Reaktionen zeugen von Begeisterung, Dankbarkeit, Freude und Wohlbefinden. Eine eingehende Auswertung des Projekts ist für Ende Jahr geplant; nach dem Abschluss der zweiten Besuchsreihe im Herbst. Doch schon aktuell werden Kontakte mit anderen Museen geknüpft, unter anderen in Lausanne, Vevey, Sainte-Croix und Prangins. Darüber hinaus haben die kulturellen Mediator*innen ihr Interesse am Vorhaben bereits bestätigt und sich bereit erklärt, die Schulung zu absolvieren. Neben Kunstmuseen kommen auch Stiftungen, Sammlungen oder thematische Ausstellungen in Frage. «Es gibt keinen Grund, weshalb das Konzept in anderen Museen nicht funktionieren sollte», erklärt Susanne Nieke. «Wir können jedes Werk animieren und zum Leben erwecken», bekräftigt Mali Genest.