Sie sass in der Kirche einige Reihen vor mir. Ich erkannte Susanne gleich an ihren roten Haaren, die sie, wohl für den traurigen Anlass, auf dem Hinterkopf zu einem Knoten zusammengesteckt hatte. Ich hatte meine Arbeitskollegin noch nie mit einer solch strengen Frisur gesehen. Ihre Lockenpracht war sonst quasi ein Abbild ihres fröhlichen Wesens. Doch heute war davon wenig zu spüren. Still sass sie da, die schwarze, schlichte Jacke, die sie trug, betonte ihre schmalen Schultern. Auch in Schwarz hatte ich Susanne noch nie gesehen, am liebsten trug sie Rot und Orange: «Meine Feuerfarben», wie sie es nannte.
 

Ich weiss nicht, ob Anna, Susannes Mutter, an deren Abdankungsfeier ich heute teilnahm, ihre Tochter gerne in diesem düsteren Outfit gesehen hätte. Wusste ich doch, dass Anna Susanne immer darin unterstützt hatte, bunte Farben zu tragen. Und das zu einer Zeit, in der rothaarigen Mädchen und jungen Frauen immer diskret geraten wurde, sie sollten sich dezent kleiden. Denn solch leuchtende Haare, wie sie auch Susanne hatte, seien auffällig genug.


Obwohl Susanne und ich keine Freundinnen waren, wussten wir doch einiges übereinander. Denn zur gleichen Zeit wie bei Anna hatten sich auch bei meinem Vater erste Anzeichen von Demenz gezeigt. So waren wir beide denn auch froh, uns gegenseitig austauschen zu können. Denn, wie so oft bei herausfordernden Lebensereignissen, kann diese nur nachvollziehen, wer Ähnliches erlebt.


Als mein Vater zwei Jahre vor Anna gestorben war, sass Susanne drei Bankreihen hinter mir. Ich weiss noch genau, wie mir damals die Tränen in die Augen schossen, als zur Einstimmung der Messe Tschaikowskys Klavierkonzert ab Konserve eingespielt wurde: das absolute Lieblingsstück meines Vaters. Damals weinte ich nicht nur vor Trauer, sondern auch, weil ich mich aufregte, dass die Akustik in der riesigen Kirche ziemlich bescheiden war. Die CD schepperte sogar etwas, und ich wusste: Das hätte dem feinen Musikgehör meines Vaters gar nicht gefallen.


Als ich bei Annas Abdankung die ersten kraftvollen Töne der Kirchenorgel erwartete, erschrak ich beinahe, als stattdessen eine weibliche Singstimme ertönte, die sich bald darauf melodiös mit anderen verband. «When the moon is in the Seventh House / And Jupiter aligns with Mars / Then peace will guide the planets / And love will steer the stars / This is the dawning of the age of Aquarius Age of Aquarius / Aquarius, Aquarius.»


Ich war offenbar nicht die Einzige, die über diese Musikwahl erstaunt war: «Let The Sunshine In» aus dem Musical «Hair». Verstohlene Blicke wurden getauscht. Hier und da ein Räuspern, aber auch ein leises Kichern war zu hören. Als es zum Refrain kam, «Let the sunshine in», durchbrachen ein paar einzelne Sonnenstrahlen ein Kirchenfenster, und ich konnte nicht anders als zu lächeln, denn ich war mir sicher: Anna wäre mit der Musikwahl ihrer Tochter sehr zufrieden gewesen. 


Als wir später am Grab standen, hielt Susanne eine kleine Rede und erzählte, dass «Let The Sunshine In» bis wenige Wochen vor ihrem Tod immer ein Lächeln auf Annas Gesicht gezaubert hatte. Ihr Lieblingssong hatte sie nicht nur in Gesundheit, sondern auch in der Krankheit begleitet. Welche Erinnerungen dieser wohl in ihr wachgerufen hatte? Es mussten schöne gewesen sein.