Im Sommer 2013 gastierte der Zirkus Knie im jurassischen Delémont. Laure H. und ihre Mutter Danièle freuten sich auf die Vorstellung, der Zirkusbesuch war Familientradition. Doch diesmal fiel der Tochter auf, wie unsicher sich die damals 58-jährige Mutter im Zelt bewegte. Als die Mutter später ein paar Tage bei der Tochter und deren Ehemann verbrachte, hatte sie Mühe beim Anziehen. Bei den Rauchpausen auf dem Balkon kam sie mit der Schiebetür kaum mehr zurecht. «Da wurde mir klar: Etwas hatte sich bei ihr verschlechtert», erinnert sich die Tochter.
Sorgen um die Mutter kannte sie seit der Kindheit. Ihre Mutter litt an einer bipolaren Störung, früher manisch-depressiv genannt. Die ehemalige Sekretärin bezog eine IV-Rente. Tochter Laure wuchs als Einzelkind bei der Mutter auf. Das funktionierte nur dank beherzter Grosseltern und Patin Kiki, der jüngeren Schwester der Mutter. «Sie waren all die Jahre meine Zuflucht und eine riesengrosse Stütze», sagt die heute 43-Jährige. Wegen der langjährigen psychischen Krankheit der Mutter blieb zunächst auch die Hirnerkrankung unbemerkt, die sich bei ihr zusätzlich entwickelte. Denn beides wirkt sich ähnlich auf die Persönlichkeit und das Verhalten aus.
Immer mehr Konflikte
«Meine Mutter benahm sich immer schon speziell», erzählt Laure H. Aus Scham über die Gereiztheit und Distanzlosigkeit der Mutter brachte die Tochter früher nie Freundinnen mit nach Hause. Ging die Mutter ins Städtchen, geriet sie oft mit Leuten aneinander, auch im Café, das sie gern aufsuchte. Besonders das unaufhörliche Bellen ihres Hündchens Ajax sorgte für Streit. «Ihr Stress übertrug sich auf das Tier», glaubt die Tochter. Als die Wohnung der Mutter immer unordentlicher wurde, schrieb das Umfeld dies ebenfalls der langjährigen psychischen Krankheit zu: «Wir dachten, es wird schlimmer mit dem Älterwerden.» Die Spitex kam vorbei, auch die Tochter und die Patin Kiki kümmerten sich.
Doch die Mutter verlor zusehends die Fähigkeit, den Alltag zu bewältigen. Ajax machte in die Wohnung. Sie kaufte trotz knappen Budgets wahllos ein. Versteckte Geld und Kaffee in der Waschmaschine. Rief die Tochter, die als selbstständige Übersetzerin arbeitete, zehnmal am Tag an. Die Konflikte zwischen ihnen häuften sich, oft wegen des mütterlichen Umgangs mit dem Geld. Die Tochter schlug eine medizinische Abklärung vor. Die Mutter lehnte ab, auch der Hausarzt und die inzwischen eingesetzte Beiständin der Mutter waren nicht alarmiert. Ein Psychiater der Mutter aber ging auf das feine Gespür der Tochter ein. Nach einem stationären Aufenthalt lag im Herbst 2013 die Diagnose auf dem Tisch: frontotemporale Demenz (FTD).
Fünf intensive Jahr
Von dieser seltenen Form der Demenz hatte Laure H. vorher nie gehört. Heute weiss sie viel darüber und ist überzeugt: «Die FTD begann bei meiner Mutter Jahre vor der Diagnose.»
So habe sie damals schon der Tod von Laures Grossmutter völlig aus der Bahn geworfen. Weil die Erkrankung nun ein bestimmtes Stadium erreicht hatte, konnte die Mutter nicht mehr selbstständig wohnen. Eine geeignete Institution für die vergleichsweise junge Frau mit der komplexen Situation zu finden, war schwierig. Laure H. liess sich in dieser Zeit auch am Alzheimer-Telefon beraten. Schliesslich zog die Mutter in ein neu eröffnetes Pflegeheim mit Demenzabteilung an ihrem Wohnort Delémont. Die Schwester lebte ganz in der Nähe. «Meine Mutter bekam ein schönes Einzelzimmer», sagt die Tochter, «das war eine Chance.»
Fünf intensive Jahre folgten. Das krankheitsbedingte Verhalten der Mutter forderte das Pflegeteam und die Angehörigen stark. Die Beharrlichkeit, die Unruhe, die Ausfälligkeiten. Komm her! Hau ab! Ihr wollt mich tot sehen! Die Tochter und ihre Patin wussten jetzt: So äussert sich die FTD. «Trotzdem war es schwer.» Als die Mutter nur noch schrie, wurde sie in die Klinik verlegt. Um mit der Belastung besser umgehen zu können, schloss sich Laure H. einer der Gruppen für Angehörige von Menschen mit FTD an, die Alzheimer Schweiz anbietet. Einem engagierten Gerontopsychiater gelang die medikamentöse Feineinstellung, die die Symptome der Mutter linderte. Sie konnte ins Pflegeheim zurückkehren, zur grossen Erleichterung der Tochter.
«... dass sie nicht mehr da ist»
In der zugewandten Umgebung der Institution geschah dann, was Laure H. kaum mehr für möglich gehalten hatte. Zwischen Mutter und Tochter entstand eine versöhnliche Nähe. Sie hörten im Zimmer Musik, «von Michel Sardou bis Mozart». Die Tochter brachte den Hund zum Streicheln mit. Auch unternahmen sie Ausflüge ins Städtchen, die Mutter im Rollstuhl. Im Café trafen sie auf alte Bekannte, manche reagierten taktlos. Dann stellte sich die Tochter resolut vor die Mutter. «Ich wollte sie beschützen», sagt sie. Die Krankheit schritt unaufhaltsam fort, die Mutter verlor ihre Sprache. Am Schluss konnte sie nicht mehr schlucken und wurde palliativ versorgt. Danièle H. starb am 25. Januar 2018, einen Tag nach ihrem 63. Geburtstag, im Beisein der Familie.
«Manchmal kann ich kaum glauben, dass sie nicht mehr da ist», sagt die Tochter mehr als zwei Jahre später. Sie erzählt die Geschichte offen und gefasst, aber man merkt: Es war ein anspruchsvoller Weg. Angehörigen von Menschen mit FTD rät Laure H. aus eigener Erfahrung, sich früh genug fachliche Beratung zu holen. Oft denkt sie an ihre Mutter zurück, an die Frau, die die Kunst liebte und in ihrem Leben mehrere schwere Krankheiten ertragen musste. «Es ist nicht fair», sagt die Tochter. In der Todesanzeige zitierte sie den belgischen Dichter Maurice Carême: Es gibt mehr Blumen für meine Mutter in meinem Herzen als in allen Gärten.
* Name der Redaktion bekannt
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