In der Schweizer Familie 42/2023 (19. Oktober 2023) erschien ein Interview mit Stefanie Becker, Direktorin von Alzheimer Schweiz, im Rahmen einer Reportage zum «Juradorf Wiedlisbach» im Kanton Bern, dem ersten Demenzdorf in der Schweiz:
«Begegnungen sind Anker im Alltag»
Menschen mit einer Demenz könnten besser betreut werden, ist die Direktorin von Alzheimer Schweiz überzeugt. Da Betroffene sich oft verloren fühlen, wäre es wichtig, sich Zeit für sie zu nehmen. Dies versuchen Demenzdörfer im Alltag zu berücksichtigen.
Aktuell leben in der Schweiz rund 153 000 Menschen mit Demenz. Bis 2050 soll sich diese Zahl mehr als verdoppeln. Ist die Schweiz darauf vorbereitet?
Wir sind bereits heute in einer prekären Situation. Die Kapazitäten der Fachkliniken, die es für die Diagnose Demenz braucht, reichen bereits jetzt nicht mehr aus. Zudem werden Betroffene nach der Diagnose meist völlig allein gelassen. Jemand, der an Diabetes erkrankt, bekommt gleich eine Überweisung für eine Ernährungsberatung, die von der Krankenkasse bezahlt wird. Bei Demenz werden die Menschen bestenfalls mit einem Flyer von unserer Vereinigung nach Hause geschickt. Es gibt hier noch ganz viel zu tun.
Was braucht es am dringendsten?
Es braucht mehr Aus- und Weiterbildungen für die Ärzteschaft, damit sie Demenz eher diagnostizieren und besser begleiten können. Und es braucht mehr Entlastungsangebote für Angehörige sowie noch bessere Langzeitpflege-Plätze für Betroffene. Zwar kommen Pflegeheime heute gar nicht mehr drum herum, sich mit den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz auseinanderzusetzen. Doch es fehlen die Fachkräfte, so dass die Angestellten unter einem enormen Zeitdruck stehen. Oft ist auch die Infrastruktur veraltet und entspricht nicht dem, was Menschen mit Demenz brauchen, so fehlen etwa Rundgänge oder geschützte Gartenbereiche.
Sind neue Wohnformen nötig?
Ja. Kommende Generationen haben einen noch höheren Bedarf nach Individualität und Selbstbestimmung, die heutige Pflegeinstitutionen oft nicht erfüllen. Ich bin überzeugt, dass neue Wohnformen an Bedeutung gewinnen werden, seien es etwa Demenz-Wohngemeinschaften oder Demenzdörfer.
Was halten Sie von dem Konzept «Demenzdorf»?
Es orientiert sich an dem, was die Langzeitpflege anstrebt: Den Menschen soweit wie möglich Normalität zu ermöglichen. Und dafür zu sorgen, dass sie ihren Alltag noch möglichst selbstbestimmt gestalten können. Zuhause ist das oft irgendwann nicht mehr möglich. In einem Demenzdorf ist das Gelände gross, was dem Bewegungsdrang vieler dementen Menschen entgegenkommt. Sie stossen dort viel weniger an Grenzen als in Pflegeheimen, die nur einen geschützten, also einen abgeschlossenen Wohnbereich für Betroffene haben.
Was ist mit dem Vorwurf, dass das Demenzdorf eine Inszenierung ist, in der den Menschen etwas vorgespielt wird?
Es ist wichtig, demente Menschen ernst zu nehmen, sie nicht zu betrügen und nicht anzulügen, das wäre verwerflich. Aber das wird im Demenzdorf meines Wissens nicht gemacht. Es ist ein geschützter Rahmen, in dem Menschen mit Demenz meiner Meinung nach gut leben können.
Für wen ist ein Demenzdorf nicht geeignet?
Es kommt darauf, was für Vorlieben und Eigenschaften jemand hat und welche Symptome bei der Demenz im Vordergrund stehen. Für manche Menschen kann der weite Raum zu viel sein und zu Angst führen. Auch Menschen, deren Demenz schon weit fortgeschritten ist, finden sich in einem Demenzdorf oft schwer zurecht, sie sind häufig in einer kleinräumlichen Institution besser aufgehoben. Auch in einem normalen Pflegeheim können Menschen mit Demenz gut leben, wenn ausreichend qualifiziertes Personal vorhanden ist.
Was braucht es konkret, damit Menschen mit Demenz sich in ihrem Umfeld wohl fühlen?
Wichtig ist, dass sie sich angenommen und sicher fühlen. Dazu braucht es einen wertschätzenden Umgang, ein Eingehen auf die Gefühle dieser Menschen, eine vertrauensvolle Beziehung auf Augenhöhe. Die kann nicht entstehen, wenn fünf Mal am Tag jemand anders zu ihnen kommt, wie das manchmal bei der Spitex der Fall ist. Eine vertrauensvolle Beziehung entsteht zudem nur, wenn das Gegenüber nicht immer in Eile ist. Menschen mit Demenz haben oft kein Zeitgefühl mehr, umso mehr brauchen sie einen Anker in der Begegnung mit anderen. Es ist zentral, mit ihnen Zeit zu verbringen. Das gibt ihnen Halt und Geborgenheit im gegenwärtigen Moment, in dem sie sich sonst oft verloren fühlen.
Die Psychologin und Gerontologin Stefanie Becker, 56, ist Direktorin von Alzheimer Schweiz. Die gemeinnützige Organisation unterstützt Menschen mit Demenz, ihre Angehörigen sowie Fachleute aus der Pflege und Betreuung.
Das Interview für die Schweizer Familie führte und schrieb Ginette Wiget, Infos zur Schweizer Familie: www.schweizerfamilie.ch
