Am 3.3.22 erschien in der Zeitschrift générations ein Gespräch, das die Journalistin Marlyse Tschui mit Birgitta Martensson geführt hat. Hier der Inhalt des Artikels:

Birgitta Martensson ist an Alzheimer erkrankt. Als ehemalige Geschäftsleiterin des Vereins Alzheimer Schweiz fällt es ihr leicht, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Motto ist noch immer das gleiche: «Man muss über die Krankheit sprechen, das Tabu brechen und Ängste abbauen.» Das Gespräch.

In ihrer Wohnung in Epalinges erzählt Birgitta Martensson begeistert von «Drive My Car», den letzten Film, den sie im Kino gesehen hat und der in Japan spielt, einem Land, das sie gut kennt. Sie strahlt dabei über das ganze Gesicht. In zwei Tagen fliegt sie nach Schweden, um ihre Familie zu besuchen. Wer mit dieser aktiven 72-jährige Frau spricht, kann kaum glauben, dass sie mit Alzheimer lebt.

«Ich war 65 und stand kurz vor der Pensionierung, als ich die ersten Symptome bemerkte. Während einer Sitzung hatte ich eine Gedächtnislücke. Als ich ein Thema angeschnitten habe, schauten mich meine Mitarbeitenden erstaunt an und sagten: «Darüber haben wir doch schon gesprochen!» Da wusste ich es. Mir war klar, dass ich Alzheimer hatte. Aber ich ging nicht sofort zum Arzt. Es war ein Schock und es fiel mir schwer, die Stiftung Alzheimer Schweiz zu verlassen, die ich während fünfzehn Jahren mit viel Einsatz und Herzblut geleitet habe.»

Sie kennt die Alzheimer-Krankheit nur zu gut. Ihre Mutter war daran erkrankt. Dies hatte Birgitta – damals Leiterin eines Verlags – dazu bewogen, sich für die Stelle als Geschäftsführerin der Stiftung Alzheimer Schweiz zu bewerben. «Obwohl ich nicht über ein klassisches Profil verfügte, wurde ich eingestellt. Mein Ziel war, die Stiftung wie ein Unternehmen zu leiten.» Dafür engagierte sie sich unermüdlich, baute Aktivitäten aus, beschaffte Mittel und setzte sich stets dafür ein, die Krankheit bekannt zu machen, Ängste abzubauen und das Tabu zu brechen.  

 

Diagnose

Ein Jahr nach ihrem Abgang von der Stiftung konsultierte Birgitta schliesslich einen Arzt. «Ich kenne Professor Démonet gut. Er war damals Leiter des Memory Center des CHUV. Ich bat ihn, mich zu untersuchen. Doch wider Erwarten konnten die Ärzte keine Diagnose stellen. Die Ergebnisse der neurokognitiven Tests entsprachen den üblichen Werten meiner Altersgruppe. Weitere Untersuchungen ergaben keine eindeutigen Resultate. Aber ich war mir sicher. Letztes Jahr wurde mir bei einer Lumbalpunktion Hirnwasser entnommen. Zwei Biomarker, mit denen sich Alzheimer zuverlässig nachweisen lässt, waren positiv. Für mich hat die Diagnose nichts geändert. Ich wusste ja schon seit Langem, dass ich mit der Krankheit lebe.»

Alzheimer ist eine stille Krankheit. Sie entwickelt sich lange Zeit im Gehirn, bevor die ersten Symptome auftreten. Sie schreitet langsam voran. Die Betroffenen können wären vielen Jahren ein nahezu normales Leben führen. So ist es auch bei Birgitta. Nach der Diagnose hat sie als Erstes ihr Umfeld informiert: Ich habe es meiner Familie, meinen Freunden und mit der Zeit auch meinem näheren Umfeld gesagt. Auch meine Nachbarn sind informiert. Schon als ich noch für die Stiftung arbeitete, lautete mein Credo: «Nichtwissen ist das Schlimmste. Gewisse Menschen verstecken die Krankheit, weil sie Angst macht und weil es keine Behandlung gibt. Sie ziehen sich vom Sozialleben zurück und gehen nicht mehr aus dem Haus. Deswegen sind Gesprächsgruppen so wichtig. Sie sind ein Weg aus der Isolation heraus, fördern den Austausch und ermöglichen Gespräche zum persönlichen Erleben. Sie helfen den Betroffenen auch, besser damit zurechtzukommen, dass sie von Angehörigen betreut werden und zu verstehen, dass es nicht darum geht, ihre Freiheit einzuschränken.»

 

Symptome

In den sieben Jahren seit ihrer ersten Gedächtnislücke sind weitere Symptome aufgetreten: «Ich habe Probleme, mich zu orientieren. Ich muss gut aufpassen, um den Weg zu finden. Und ich verlege Dinge. Ich lege Gegenstände am falschen Ort hin und weiss später nicht mehr, wo sie sind. In meiner Wohnung verbringe ich viel Zeit damit, beispielsweise mein Telefon zu suchen. Es fällt mir auch immer schwerer, gewisse Geräte zu bedienen. Zum Glück habe ich keine Probleme mit meinem Computer, den ich tagtäglich benutze, zumindest noch nicht… Ich habe auch Mühe, mir die Namen von Personen oder Orten oder Buchtitel zu merken. Ich lese viel und bin gemeinsam mit sechs Freundinnen Teil einer Lesegruppe, in der wir Bücher untereinander austauschen. Wenn wir ein paar Monate später über ein bestimmtes Buch sprechen, kenne ich den Titel nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch an die Illustration des Titelbilds.»

Wie steht es mit ärztlichen Empfehlungen oder bestimmen Strategien für Birgitta? «Was soll man mir denn raten? Ich kenne die Krankheit nur zu gut. Ich führe ein normales Leben. Was für mich zählt, ist, aktiv zu bleiben und mein Leben zu leben. Ich treibe viel Sport, wandere regelmässig, gehe ins Fitness-Studio und bin mit dem Velo unterwegs. Vor kurzem habe ich meine Leidenschaft für Sudoku entdeckt!»

 

Alzheimer, eine Familiengeschichte

Auch eine der drei Schwestern von Birgitta ist an Alzheimer erkrankt. Sie lebt in Schweden. Birgitta will sie besuchen: «Ich möchte bei ihr sein. So hat ihr Mann etwas Zeit für sich selbst. Pflegender Angehöriger zu sein ist anstrengend. Meine Schwester verleugnet die Krankheit. Sie behauptet, dass sie keine Betreuung braucht, obwohl offensichtlich ist, dass das nicht stimmt. Sie war eine begabte Physiotherapeutin und hatte geschickte Hände, doch jetzt hat sie alle Aktivitäten aufgegeben. Sie will nicht zugeben, dass sie gewisse Tätigkeiten wie Kochen nicht mehr ausführen kann. Also sagt sie: «Ich habe das so lange gemacht, jetzt ist mein Mann an der Reihe!» Uns beiden geht es so wie unserer Mutter. Birgitta ist alleinstehend. Sie kann nicht auf die Hilfe eines pflegenden Angehörigen zählen. Ist sie bereit, eine Haushaltshilfe in Anspruch zu nehmen oder in ein Pflegeheim zu ziehen, wenn die Symptome schlimmer werden? «Ich weiss noch nicht, ob ich eine Hilfe zuhause möchte. So weit bin ich noch nicht. In ein Pflegeheim will ich auf keinen Fall. Das kommt nicht in Frage. Wen es soweit ist, gehe ich zu Exit. Das ist für mich klar. Dazu muss ich allerdings noch urteilsfähig sein. Doch was ich heute sage, klingt morgen vielleicht anders. Nur eins ist sicher... so will ich nicht weiterleben.»

Birgitta Martensson schrieb für Alzheimer Internationalen in einem Blog in englischer Sprache über ihre Erfahrungen mit der Diagnose und wie sie mit der Krankheit umgeht.

 


In der Schweiz gibt es rund 150 000 Menschen mit Demenz. Die Mehrheit ist an Alzheimer erkrankt. Viele machen sich ab sechzig Sorgen: Ist die beginnende Vergesslichkeit ein Vorläufer der Krankheit oder gehört sie einfach zum Älterwerden?

Prof. Gilles Allali, ärztlicher Leiter Leenaards Memory Center, CHUV, begrüsst die wissenschaftlichen Fortschritte: «Noch vor dreissig Jahren liess sich zu Lebzeiten der erkrankten Person keine zuverlässige Diagnose erstellen. Zehn Jahre später konnte die Krankheit über die Bestimmung der Biomarker anhand der über Lumbalpunktion entnommenen Gehirnflüssigkeit präzise diagnostiziert werden. Heute ist dank PET-Scan eine minimalinvasive Früherkennung möglich.»

 

Kognitive Funktionen erhalten

Zwar gibt es Medikamente, um die Symptome der Krankheit zu behandeln, doch heilen lässt sie sich noch nicht. Umso wichtiger ist die Früherkennung: Sie hilft den Ärztinnen und Ärzten des Memory Centers, die Betroffenen zu unterstützen, ihre kognitiven Funktionen und ihre Fähigkeit zur Bewältigung des Alltags möglichst lange zu erhalten. «Die Entwicklung der Krankheit lässt sich mit verschiedenen Massnahmen positiv beeinflussen», erklärt Gilles Allali. Kognitive Stimulation und Bewegung verlangsamen den Krankheitsverlauf, ebenso sowie Sozialkontakte und eine gesunde Ernährung. Ein Beispiel ist die Mittelmeerkost. Sie kann die Krankheitsentwicklung bremsen und wirkt sich positiv auf deren Verlauf aus.   

Andere Faktoren hingegen haben eine negative Wirkung auf das Gedächtnis. Die Einnahme von Schlaf- oder Beruhigungsmitteln, Alkoholmissbrauch oder Depressionen verstärken die Symptome. Werden diese Probleme nicht angegangen, verschlechtert sich die Situation.»

 

Unterstützung von pflegenden Angehörigen

Mit fortschreitender Krankheit verlieren die Betroffenen ihre Urteilsfähigkeit. Dies ist eine schwierige Situation für die pflegenden Angehörigen. Sie betreuen die erkrankte Person Tag und Nacht. Wer dabei nicht auf eine gute Unterstützung zählen kann, geht über kurz oder lang das Risiko ein, an Erschöpfung oder Depression zu leiden oder gar selbst zu erkranken. «Aus diesen Gründen ist eine Abklärung in einem Memory Center wie dem unsrigen wichtig», erklärt Gilles Allali. «Die Betreuung durch die Angehörigen wird in den Pflegeplan der erkrankten Person integriert. Der Kanton Waadt bietet pflegenden Angehörigen beispielsweise kostenlose Konsultationen. Wir verfügen über ein Team von Psychologinnen und Psychologen speziell für pflegende Angehörige sowie eine Sozialarbeiterin, die mithilft, den Alltag der Betroffenen zu organisieren und die Angehörigen zu entlasten.»

 

Alzheimer: verschiedene Ursachen

In unserem Land gibt es rund 50 000 Menschen, die nicht an Alzheimer, sondern an einer anderen Demenzform leiden. Mögliche Ursachen sind beispielsweise Hirnschläge. Eine häufige Ursache ist übermässiger Alkoholkonsum. Mit spezifischen Tests lässt sich feststellen, ob Angstzustände oder Schlafprobleme die Gedächtnisprobleme verursachen. Gedächtnislücken können verschiedene Ursachen haben. Nicht immer stecken neurodegenerative Krankheiten dahinter.

Die mit zunehmendem Alter verbundene Vergesslichkeit mag beunruhigend sein, ist aber häufig harmlos: «Nicht nur der Körper und die Organe altern, sondern auch das Gehirn», erklärt Prof. Allali. Viele suchen uns auf, weil sie die Namen von Personen, Orten oder Buchtiteln vergessen. Wir untersuchen ihre Leistungsfähigkeit mit neuropsychologischen Tests. Angesichts der Ergebnisse können wir sie beruhigen und ihnen erklären, dass die Gedächtnisschwäche mit dem normalen Alterungsprozess verbunden ist. Andernfalls führen wir weitere Abklärungen durch.»