Zu Besuch bei einem Mitglied der Gruppe «Impuls Alzheimer»
Einmal zum Gespräch nicht am Tisch im Sitzungszimmer bei Alzheimer Schweiz in Bern sitzen, sondern an einem aus lokalem Birnenholz gefertigten in Luzern: Genau das hatten sich die Mitglieder der Arbeitsgruppe Impuls Alzheimer gewünscht. Der Grund dahinter war allerdings nicht der Tisch. Vielmehr war es die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit einem ehemaligen Mitglied der Arbeitsgruppe. Elfriede F.* hatte Anfang des Jahres 2022 beschlossen, in den Hof Rickenbach, ein im Oktober 2021 eröffnetes Zentrum für Demenzerkrankte, zu ziehen. Sie kam als eine der ersten Feriengäste und beschloss zu bleiben.
Begrüssung am Tisch aus Birnenholz
«Endlich sind wir da ‒ waren das viele, viele Kurven!». Die Wiedersehensfreude ist gross. Elfriedes neues Zuhause ist bereits auf den ersten Blick ein heller, mit viel Lebensfreude gefüllter, familiärer Ort, in dem grosse Tische für gemeinsame Aktivitäten eine wichtige Rolle spielen. Ein Ort, an dem man sich daheim fühlt und die Philosophie des Vereins «Hof Rickenbach» bereits beim Betreten des Hauses spürbar ist: «Vo Härz zo Härz».
Zu Tisch beim gemeinsamen Mittagessen
Wir starten mit einem gemeinsamen Mittagessen an einem grossen Tisch im Gewächshaus zwischen Tomatenstauden, mit Blick auf junge Beerensträucher und Klatschmohn. Die verbaute Technik ist auf dem neuesten Stand, was uns freut: Ein frühsommerlicher Starkregen setzt ein und die Dachfenster über unserem Tisch schliessen sich automatisch innerhalb Sekunden.
Ein Garten zum Sein, Helfen und Naschen
Der anschliessende Gartenrundgang in der Regenpause versetzt alle in entspannte Stimmung. Der Garten ist sowohl schön als auch praktisch: Er lädt zum Sein, Ertasten und vor allem Mitmachen ein. Sogar Martin, der aufgrund seiner Demenzform Dinge kaum mehr erkennen kann, geniesst den Spaziergang mit seinen Geräuschen, Gerüchen und Eindrücken in vollen Zügen. Luzia Hafner, eine der Geschäftsführerinnen erklärt, der Garten sei ein Nutzgarten, in dem auch im Vorbeigehen genascht werden dürfe. In Beeten und Hochbeeten wachsen Kräuter und Gemüse. Die Bäume tragen Äpfel, Quitten, Aprikosen und Nektarinen.
Mithilfe erwünscht – jeder nach seinen Möglichkeiten
Alle Bewohner_innen dürfen bei der Haus- und Gartenarbeit mithelfen. Elfriede zum Beispiel ist stets dabei, wenn es gilt, den Pflanzen an heissen Tagen Wasser zu geben. Die einzelnen Wohngruppen helfen ebenso bei Ernte und der Verarbeitung von Gemüse und Obst. Und das Ergebnis schmeckt! Bereits beim Mittagessen durften wir aus selbst Eingemachtem kosten: Sauer eingelegte Bärlauchknospen erwiesen sich neben zweierlei Zucchetti und Quittensenf als unsere Favoriten.
Schaukeln neben Kleintieren
Maria führt uns weiter zu den Tieren. Wir staunen über Laufenten – Dauergäste gegen die Schnecken, zwei Hängebauchschweine, kleine Geissen und Seidenhühner, die lautstark von einem Hahn bewacht werden. Doch die grösste Freude bereitet eine grosse hölzerne Hollywoodschaukel. Jeder der Gruppe holt sich lachend darauf ein kurzes Stück kindliche Unbeschwertheit zurück.
Gemeinsam leben – am Tisch in den Wohneinheiten
Über die Küche, in der gerade die wöchentliche Lieferung der Schweizer Tafel verarbeitet wird, geht es über die Waschküche ? Elfriedes favorisierter Ort zur Mithilfe: «Am Montag hat es Berge von Wäsche hier» ? zu den Wohneinheiten. Auf zwei Stöcken verteilen sich Zimmer für Kurzaufenthalter und dauerhaft dort wohnende Demenzbetroffene. Alles ist grosszügig, die Zimmer hell. Und erneut findet sich ein grosser Tisch mit Bank und Stühlen in der grossen Wohnküche. Die Sitzbank – so Luzia Hafner – erlaubt zum Beispiel auch Personen, die sehr mobil sind, beim Essen zur Ruhe zu kommen. Eingerahmt von den anderen «Familienmitgliedern» der Wohneinheit.
Familiendenken, umgewöhnen, loslassen
Familiendenken, Grossfamilie: Das ist einer der zentralen Punkte, um den sich alles dreht auf dem Hof. Elfriede erzählt, sie habe sich daran gewöhnen müssen, sich zwar auch nach wie vor für andere verantwortlich zu fühlen, aber diese Verantwortung nicht mehr allein tragen zu müssen. Und eben auch Kompromisse einzugehen in der Gruppe. Mal entscheidet bei Aktivitäten die eine, mal der andere. Lernen loszulassen, heisst hier die Devise. Ein Thema mit dem jeder von uns im Leben auf irgendeine Art konfrontiert ist, jedoch Demenzbetroffene und die Angehörigen im Besonderen.
In Elfriedes Zimmer wird die Geige aus dem Kasten geholt. Elfriede fängt an und übergibt die Geige an ihren Kollegen der Gruppe, Ueli. Der setzt sich aufs Bett, verzieht nach den ersten Tönen das Gesicht und beginnt zur Erheiterung aller, die Geige systematisch durchzustimmen. Die Stimmung ist gelöst, alle singen und klatschen zu bekannten Weisen.
Alle Fünf grad sein lassen
Mit fröhlichen Gesichtern, doch auch müde von den vielen Eindrücken finden wir uns im Café im Erdgeschoss ein. Bei einem Stück Kuchen lassen wir den Tag erneut am grossen Tisch aus Birnenholz Revue passieren. Was nehmen wir mit nach Hause? Alle sind sich einig: Situationen sind nicht jeden Tag die gleichen und müssen trotz allem akzeptiert werden. Versuchen loszulassen und zugleich abends zufrieden ins Bett zu gehen, kann hilfreich sein. Dazu braucht es nicht viel: Genaues Hinsehen, vor allem mit dem Herz. Und Akzeptanz dessen, was eine an Demenz erkrankte Person benötigt. «Und manchmal muss man einfach alle Fünfe grad sein lassen», so findet eines der Mitglieder der Gruppe am Tisch.
Wir laufen zum Auto und machen uns auf den Heimweg.
* Name ist der Redaktion bekannt