Wir treffen Jacqueline Haymoz kurz vor Weihnachten zum Gespräch. Es ist die erste Weihnacht, die ihre Mutter Rosmarie Birbaum im Pflegeheim feiern wird. Bevor es um das Heute geht, um das Leben mit Demenz, erzählt uns Jacqueline Haymoz von früher. Ihre Mutter zog sie und ihre Schwester Claudine alleine gross, nachdem sie früh Witwe geworden war. Rosmarie Birbaum musste beides leisten: Erwerbs- und Familienarbeit. Sie tat es ohne grosse Unterstützung, selbstständig und unabhängig. Sie wollte niemandem «etwas schuldig sein». Hilfe anzunehmen, ist sie sich nicht gewohnt. Ihre Demenzerkrankung stellt diese Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit nun fundamental infrage. Ohne Unterstützung, ohne Begleitung im Alltag geht es nicht. Jacqueline Haymoz ist überzeugt, dass dieser Aspekt der Krankheit für ihre Mutter schwer zu akzeptieren ist. 

«Es ist auch für mich als Tochter schwierig, zu sehen, dass sie diese Unabhängigkeit nicht mehr hat. Sie hat ihr Leben immer nach dem Motto ‹selbst ist die Frau› gemeistert. Das geht nun nicht mehr. Wir versuchen es aufzufangen, indem vieles über uns läuft. Von uns kann sie es besser annehmen.» 

Rosmarie Birbaum und ihre Familie haben die Diagnose vor drei Jahren erhalten. Seither kennen sie den Namen der Krankheit, deren Symptome sie vorher nicht einordnen konnten: Die Mutter ist an vaskulärer Demenz erkrankt. Jacqueline Haymoz hat sich, nachdem die Diagnose feststand, an das nationale Alzheimer-Telefon gewandt.* Anfang 2019 verschlechterte sich die Situation. Rosmarie Birbaum zog sich immer mehr zurück. Sie ass kaum etwas. Sie fühlte sich ausserdem immer unsicherer und hatte Angst, wenn sie zu lange alleine war. Der Vorschlag, dass sie in einem Pflegeheim besser aufgehoben wäre, kam von ihr selber. Seit Juli 2019 lebt Rosmarie Birbaum in einem speziellen Wohnbereich für Demenzerkrankte einer Pflegeeinrichtung in Tafers und fühlt sich wohl, wie sie sagt. «Hier bin ich am richtigen Ort, es geht mir gut.» 

«Unsere Mutter hat es uns leicht gemacht», sagt Jacqueline Haymoz. «Es war aber trotzdem schwierig. Ich wusste, dass die ersten Tage im Heim stressig waren für sie, und musste sie dort lassen. Alleine.» Der zweite schwierig auszuhaltende Moment war das Räumen der Wohnung. Die Familie wusste, sie wird nie mehr in ihre Wohnung zurückkommen. Es war ein Abschied und er war endgültig. «Rational weiss man, was geschieht: Jemand zieht ins Heim, man löst die Wohnung auf. Logisch. Punkt. Aber was emotional mit einem geschieht, das kann man nicht beschreiben.» 

Loslassen im doppelten Sinne
Während ihrer Mutter der Verlust ihrer Autonomie am meisten zu schaffen macht, muss Jacqueline Haymoz lernen, dass sie nicht alles «im Griff» haben kann. Sie sei eine Macherin, die gerne plant, vorausschaut, vorbereitet ist, alle Hindernisse und Probleme aus dem Weg räumt. Von alldem könne sie nichts gebrauchen. «Man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen, ohne zu wissen, in welche Richtung es geht. Ich kann sie einfach begleiten. Und das ist das Schwierigste für mich. Dieses ‹Loslassen› entspricht mir nicht.» Sie lerne viel im Moment, sagt Jacqueline Haymoz, auch über sich selber. Sie übt sich im Reagieren statt im Agieren. Sie blickt weniger nach vorn und versucht, sich auf das Heute und Jetzt zu konzentrieren. «Ich weiss, dass vieles nach und nach nicht mehr möglich sein wird. Es ist ein Abschiednehmen in Raten. Plötzlich ist es nicht mehr, wie es gestern noch war. Das gibt dem Loslassen nochmals eine andere Bedeutung: Wir geniessen die guten Momente zusammen. Mehr braucht es nicht.»