Brigitte Zaugg wusste zwar, dass ihr Vater ein Verdingbub gewesen war. Albrecht Zaugg hatte aber nie viel über diese schreckliche Zeit erzählt. «Unsere Mutter kannte seine Geschichte etwas besser. Wir Kinder wussten nicht so viel. Einfach, dass er es sehr schlimm hatte.» Sie hatte daher keine Ahnung, was auf sie zukommen sollte, als ihr Vater ihr einen Stapel Papier in die Hand drückte mit der Bitte: Kannst Du das abtippen? Zu diesem Zeitpunkt war Albrecht Zaugg 76-jährig und schwer krank. Der Auslöser für seine plötzliche und überraschende Bitte war ein Aufruf im Fernsehen. Ehemalige Verdingkinder wurden gebeten, ihre Geschichte zu erzählen. Der Anstoss von aussen brachte einen wichtigen Prozess in Gang.

«Das Niederschreiben seiner Erlebnisse, mit sehr viel Gewalt, das war happig. Ich konnte es nur schrittweise machen.» Für Brigitte Zaugg begann mit dem Festhalten der Erinnerungen ihres Vaters eine intensive Zeit. Albrecht Zaugg wollte sein Leben in einem Buch festhalten. Ruth Frei, eine Journalistin und Freundin von Brigitte Zaugg, solle das Buch schreiben. Er wolle aufzeigen, dass man auch mit den schlimmsten Startbedingungen etwas aus seinem Leben machen kann. Das war ihm wichtig. Albrecht Zaugg erzählte Ruth Frei sein Leben und innerhalb eines halben Jahres entstand das Buch «Der steinige Weg – vom Verdingbuben zum Fachdozenten». Es sei sehr eindrücklich gewesen, erinnert sich Brigitte Zaugg an den Entstehungsprozess: «Etwas, das während 60 Jahren verborgen und unterdrückt war, kam plötzlich wieder an die Oberfläche. Er wollte es verarbeiten.» Als sie ihm das fertige Buch in die Hand drücken konnte, war Albrecht Zaugg seine Erkrankung weit fortgeschritten. «Ich hatte den Eindruck, dass es ihn mit seiner Geschichte versöhnt hat. Das Erzählen war wertvoll. Von einem Hadern war von aussen gesehen nichts mehr zu spüren. Ohne das Aufarbeiten, wäre das vielleicht nicht möglich gewesen.»

Auch bei Brigitte Zaugg löste das Buch einiges aus. Sie kann heute Erlebnisse und Erfahrungen ihrer eigenen Biographie besser einordnen. Das Buch birgt auch für sie etwas Versöhnliches. Ihre Beziehung zum Vater erhielt eine neue Qualität; durch die intensive Arbeit am Buch und die Erkenntnisse, die sie gewinnen konnte.

Ein fokussierter Blick zurück
Gegen Ende des Lebens oder bei einer schweren Erkrankung kann ein fokussierter Blick zurück eine Chance sein. Der_die Erkrankte, Angehörige und Nahestehende setzen sich mit der Vergangenheit auseinander, sie erzählen von früher, halten Erinnerungen fest. Und sie stellen sich den Fragen, die noch im Raum stehen. Es bedingt aber, dass ein Gegenüber da ist, das zuhört und sich ebenfalls mit den Erinnerungen befasst - und mit dem, was sie auslösen. Das sei wichtig, ist Brigitte Zaugg überzeugt. «Man muss bereit sein, das Erzählte anzunehmen und stehen zu lassen. Egal ob es positiv ist oder negativ». Die Herangehensweise, das Herantasten an ein gemeinsames Erinnerungsbuch gestaltet sich anders, je nach Art der Beziehung. So kann die Auseinandersetzung mit Erlebtem und Erfahrenem das Beziehungsgefüge eines Paares gehörig durcheinanderschütteln. Auch unter Geschwistern könnte ein Erinnerungsbuch höchst spannend sein. Geschwister haben nicht selten eine ganz unterschiedliche Wahrnehmung, sie erleben Ereignisse anders und das wird in der Erinnerung überdeutlich.

Für Brigitte Zaugg hat sich das Hinhören gelohnt. Auch wenn ihr die Auseinandersetzung nicht leichtgefallen ist. Das Buch ist zu einer sehr schönen Erinnerung an ihren Vater geworden und hat die Zeit des Abschiednehmens positiv geprägt. «Es ist ein guter Weg, den wir noch zusammen gegangen sind.»

 

Albrecht Zaugg: Der steinige Weg – vom Verdingbuben zum Fachdozenten
©2010, Albrecht Zaugg (Eigenverlag), ISBN 978-3-033-02378-9